Ausgabe 1 - 2005 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Kurzkultur

böse lieder

Die sich globalisierungskritisch gerierende Kunst ist derzeit ziemlich hip, aber politische Liedermacher sind sowas von out. Die Veranstalter des Festivals Musik und Politik lassen sich davon aber nicht beirren und veranstalten auch in diesem Jahr wieder Konzerte und Dialoge. Folgerichtig gibt es ein Gespräch über „politisches Engagement und Enttäuschung", eine Ausstellung widmet sich „Musik und Politik in Berlin 1945-1951", während der 50. Geburtstag Gerhard Gundermanns mit einem Konzert gefeiert wird. Auf Konzerten zu erleben sind u.a.: Têtes Raides, Jackson Kaujeua, Dota ­ die Kleingeldprinzessin und Das Blaue Einhorn.

* Festival Musik und Politik, vom 24. bis 27. Februar, WABE, ZwiEt und Kulturbrauerei, www.songklub.de

kriminelle firmen

Während das Holocaust-Mahnmal kurz vor der Fertigstellung steht, zeigt eine Ausstellung in der ifa-Galerie künstlerische Auseinandersetzungen mit der Rolle der Industrie im Holocaust. So dokumentiert Yael Katz Ben Shalom die Industriebrache der Firma J.A. Topf& Söhne in Erfurt, wo die Verbrennungsöfen für Vernichtungslager entwickelt wurden. Tanya Ury setzt sich provokativ mit der Modefirma Hugo Boss auseinander, die einst ihr Geld mit dem Schneidern von SS-, SA- und HJ-Uniformen verdiente. Auch der ungewöhnliche Entwurf für ein Holocaust-Mahnmal in Form eines Busbahnhofs ­ mit den Reisezielen Sachsenhausen, Auschwitz usw. ­ wird in der Ausstellung präsentiert.

* „Stets gern für Sie beschäftigt ...", vom 28. Januar bis zum 27. März in der ifa-Galerie, Linienstraße 139/140, Mitte, Di bis So 14 bis 19 Uhr, Eintritt frei, www.ifa.de

tote dichter

Der vor drei Jahren verstorbene Dramatiker, Schriftsteller und Filmemacher Thomas Brasch entwickelte in seinen Arbeiten eine ganz eigene Ästhetik des Widerstands gegen den unhaltbaren Zustand der Welt: „Es gibt in jeder Beschreibung etwas, das gleichzeitig der Stachel und die Aufforderung ist, die Verhältnisse zu ändern." Brasch erachtete es als Aufgabe des Künstlers, „Wünsche nach einer Alternative zu der Art, wie wir leben", wachzuhalten. Anläßlich seines 60. Geburtstages erinnert das ACUD in Galerie, Theater und Kino mit mehreren Veranstaltungen an ihn. Unter dem Titel „Neunzehnter" gibt's u.a. Lesungen aus Braschs Werken und Tagebüchern, aber auch seine viel zu wenig beachteten Filme Engel aus Eisen, Domino und Der Passagier ­ Welcome to Germany kommen zur Aufführung.

* „Neunzehnter", am 19. Februar von 15 Uhr bis tief in die Nacht im ACUD, Veteranenstr. 21, Mitte, Informationen zum Programm: www.acud.de

darbende schafe

15 Jahre nach dem Beginn des dortigen Kunst- und Galerienbooms meint nun auch die altehrwürdige daadgalerie aus Westberlin nach Mitte umziehen zu müssen und gibt die Räumlichkeiten in der schönen Villa in der Kurfürstenstraße zugunsten neuer in der Zimmerstraße auf. Dort finden deshalb jetzt auch die Lesungen der Stipendiaten des Berliner Künstlerprogramms statt. Den Anfang macht die Dänin Inger Christensen, eine große alte Dame der formal-anspruchsvollen Literatur. Bekannt wurde sie 1969 mit dem Langgedicht Det (Es), ihre jüngste Veröffentlichung in deutscher Übersetzung trägt den merkwürdigen Titel Massenhaft Schnee für die darbenden Schafe.

* Inger Christensen liest am 9. Februar um 19 Uhr in der daadgalerie, Zimmerstr. 90/91, Mitte

schöne brücken

Daß Brücken nicht nur funktionale, sondern auch ästhetische Gebilde sind, weiß jeder Tourist, der schon einmal Venedig oder Le Havre besucht hat. Sogar Berlin verfügt über die eine oder andere ansehnliche Brücke. In der ehemals geteilten Stadt werden sie gerne symbolisch überhöht ­ als Metaphern von Verbindung und Vereinigung, so, wie man es von den Euro-Scheinen kennt. Die Galerie framework widmet dem Brückenbau jetzt eine Ausstellung. Gezeigt werden vier Wettbewerbsbeiträge für Schwerin, Flensburg, Augsburg und Bolzano. Diese Städte liegen zwar an keinen ernstzunehmenden Flüssen, aber es geht ja auch nicht um ingenieurstechnische Heldentaten. Die Kuratoren stellen sich seltsame Fragen ­ „Ist eine Brücke eine in Material übersetzte Momentlinie oder eine verbindende Geste, die ein Statiker zum Halten bringen muß?" ­ wissen aber: „Im Idealfall ist sie beides: ein technisches Bauwerk und eine Skulptur."

* „Pontifex – Brückenbauer", noch bis zum 22. Februar in der Galerie framework, Schlesische Straße 28, Kreuzberg, Mo bis Fr von 12 bis 18 Uhr, Sa von 14 bis 18 Uhr

lange nächte

Lange Nacht der Museen, Lange Nacht der Wissenschaft, Lange Nacht des Döners: In Berlin wird alles in viel zu langen Nächten abgefeiert. Das Konzept scheint zu funktionieren, obwohl man sich schon fragt, warum Menschen freiwillig hintereinander zehn oder noch mehr brutal vollgedrängte Museen absolvieren, statt in Ruhe in der Kneipe zu sitzen. Jetzt haben wir den Beweis, daß sich in einer Nacht auch mehrere Theaterabende unterbringen lassen ­ bloß so lang wie bei Castorf dürfen die Stücke dann nicht sein. Das Hebbel am Ufer und die Sophiensaele laden nämlich zum „2. Langen Wochenende des Freien Theaters", damit man alle seine Theaterbesuche in drei Tagen erledigen kann. In acht Spielstätten finden kleine Inszenierungen, Performances oder auch nur Ausschnitte aus Arbeiten freier Theatermacher statt. Da die Stücke nicht länger als eine Stunde dauern, ist das immerhin die Gelegenheit, sich einen Überblick über die Szene zu verschaffen.

* „100° Berlin. Das 2. Lange Wochenende des Freien Theaters", vom 3. bis zum 6. Februar. Karten für 13 bzw. 8 Euro, Informationen unter fon 27890033 oder www.sophiensaele.com

legendäre kneipen

Man könnte sich fragen, ob es wirklich eines weiteren lokalhistorischen Machwerks über den immer niedlicheren Helmholtzkiez ­ zu anderen, wilderen Zeiten LSD-Viertel genannt ­ bedarf. Aber es wurde wirklich Zeit, daß jemand sich um die Huldigung des legendären Gastwirts des Torpedokäfers, Lothar Feix, bemüht. Annett Gröschner fordert gar, einen Platz nach ihm zu benennen, den Helmholtzplatz selbst nämlich, wo ihr verstorbener Freund sein Leben lang sein Unwesen trieb. Die Stärke des Buches Prenzlauer Berg im Wandel der Geschichte ­ Leben rund um den Helmholtzplatz liegt denn auch in ebendiesem sehr persönlichen Blick auf das Treiben dort. Man darf man sich von dem drögen Titel nicht abschrecken lassen, denn hier waren immerhin einige ehemalige scheinschlag-Redakteure beteiligt. Deshalb ragt das Buch auch aus der Masse der Berlin-Bücher heraus. Und für jeden, der sich für die Geschichte der Stammkneipe unseres Bildredakteurs interessiert, ist dieses Werk ohnehin ein Muß.

* Bernt Roder und Bettina Tacke (Hg.): Prenzlauer Berg im Wandel der Geschichte – Leben rund um den Helmholtzplatz. be.bra verlag, Berlin 2004. 15,90 Euro

 
 
 
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