Ausgabe 10 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

Schöner Scheitern mit Tim

Tim Renners Buch über die Krise der Musikindustrie: Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm

Ein Buch, das mit dem Satz „Dies ist die Geschichte eines Scheiterns" beginnt, kann so verkehrt nicht sein. Noch dazu wenn es sich um die berufliche Biographie eines der Wunderkinder des Musikbusiness handelt. Tim Renner hat nach klassischen Karrierekriterien so ziemlich alles erreicht. Mit 22 steigt er beim Musiklabel Polydor ein. Eigentlich will er nur eine Enthüllungsstory à la Wallraff schreiben. Eine Abrechnung mit den verpönten Majorlabels soll es werden. Denn Renner ist Musikjournalist für das engagierte Magazin Scriti – ein Gegenentwurf zur Spex. Es kam anders. 15 Jahre später hatte Universal Polydor geschluckt, und auf dem Chefsessel von Universal Deutschland saß inzwischen ein gewisser Tim Renner. Doch die Idee mit der Enthüllungsstory von damals hatte er nicht vergessen. Frustriert von Inkompetenz und Fehlentscheidungen im Unternehmen schmiß er Anfang 2004 den Job – nun ist sein Buch erschienen.

Daß Tim Renner überhaupt so eine Karriere hinlegen konnte, verdankt sich der Aufbruchsstimmung der achtziger Jahre. Die Umsätze stimmten, und so hatten musikbegeisterte Fans wie Renner die Möglichkeit, als Artist- und Repertoire-Manager (A&R) bei den Majors einzusteigen, um dann ihre Lieblingsbands mit einem Vertrag zu versehen und sie langsam aufzubauen. Schnell mußte Renner feststellen, daß sein musikalisches Weltbild ­ hier die sympathischen Indies, dort die bösen Majors ­ trotz aller überzeugender Einfachheit nicht stimmte.

Dann explodierte der Markt dank einer kleinen silbernen Scheibe, und die goldenen Achtziger sollten in die noch glänzenderen Neunziger übergehen. Die Verkaufserfolge der CD sprengten alle Erwartungen – weckten aber auch Begehrlichkeiten. Plötzlich war das Musikgeschäft eine lukrative Geldanlage. Aktiengänge versprachen Millionengewinne. Doch damit zog auch eine neue Unternehmenskultur ein: Sharholder Value und Unternehmensberater veränderten die eingespielten Mechanismen. Nachhaltigkeit und behutsamer Künstleraufbau waren einmal. Was in anderen Branchen funktionierte, sollte auch hier die chaotischen und wenig nachvollziehbaren Abläufe systematisieren: Quartalszahlen ersetzten Jahrespläne, Controlling das Gespür von A&R-Mitarbeitern. Die Zeit der vermeintlich altmodischen und musikbegeisterten Vermittler war vorbei.

Doch es sollte noch schlimmer kommen. Hit-Compilations (Bravo Hits 39) und Nullnummern-Castingshows wie z.B. „Deutschland sucht den Superstar" schienen für kurze Zeit eine Lizenz zum Gelddrucken zu sein. Doch irgendwie klang dann alles gleich: Die Radiosender mutierten (Berlin ist da mit seinen vielen Sendern eine Ausnahme) zu reinen Chart-Abspielprogrammen, gesteuert von einem Computer. Der Konsument wandte sich gelangweilt ab und dem Internet bzw. dem CD-Brenner zu. Das einst so emotionale Produkt Musik fiel in das unterste Kellerloch der Wertschätzung. Tragikomisch die Reaktion der panischen Manager: Unfähig, die Veränderungen zu erkennen, erklärten sie den Konsumenten den Krieg statt neue Geschäftsmodelle wie komfortable und legale Download-Börsen im Internet zu entwickeln. Obskure Kopierschutzprogramme machten das Abspielen einer gekauften CD im Rechner oder Autoradio unmöglich, während die gebrannte aus dem Internet bestens lief. Anstatt dem Kunden entgegenzukommen, wurde er mit Klagen bedroht. Kein Wunder, daß niemand der Musikindustrie eine Träne hinterherweint.

„Und so ging ich dann", endet entsprechend nüchtern der erste Teil der informativen und unterhaltsamen Geschichte des Scheiterns. Dabei wird deutlich, daß es nicht nur ein Scheitern von Tim Renner war ­ es ist das Scheitern einer ganzen Industrie. Die Stärke von Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm liegt im Detailreichtum und dem (anekdotischen) Hintergrundwissen, das Renner elegant einfließen läßt. Man darf sich allerdings auch wundern, denn dafür, daß er dieses Scheitern sehr früh vorausgesehen hat, blieb er recht lange dem leck geschlagenen Dampfer treu ­ am Ende sogar als verantwortlicher Kapitän.

Allerdings jammert er in seinem Buch der großen Zeit auch nicht hinterher, sondern setzt sich im zweiten Teil intensiv mit den neuen Technologien und Geschäftsmodellen für die Musik- und Medienbranche auseinander – denn so viel ist klar: Die Show ist nicht zu Ende. Gerade die kleinen Labels zeigen, daß Pop immer noch einen guten Klang haben kann und eine Entdeckung wert ist. Renner weiß das natürlich auch und hat Motor Music aus dem Universal-Konglomerat herausgelöst und sich als eigene Marke sichern lassen – Scheitern als Chance.

Marcus Peter

Tim Renner: Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm! Campus Verlag, Frankfurt am Main 2004. 19,90 Euro

 
 
 
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