Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Kleinkrieg, authentoid

1. S t i l v o l l v e r a r m e n (SZ); Zwiebelpaste an Spaghetti ausprobieren,

einen Brief nach Biggera Waters, Qld., Australien schreiben,

auch Umwege fliegen über totalitäre Gebiete:

da muß ich nachlösen:

„Was hammer denn da? Akzeptieren Sie auch meine CrashCashCard?" ­

Überzogene Konten am besten sofort ausgleichen, bevor diese Angestellten beginnen zu schreien ...

,a r i s t o k r a t i s c h' d i e V e r l u s t e t r a g e n ...

Diese Maschine ist schwarz von Fußtritten untenrum. Eine vergessene Schnittstelle in einer ansonsten wegrationalisierten Commerzbank-Filiale, wo dann passieren kann, daß man seine PIN-Nummer vergessen hat und die Illusion zu flimmern beginnt. Da schimmert dann die dahinter liegende Struktur durch.

Huschten auch alle irgendwie fern von sich um ihre Arbeitsplätze.

Saßen breitbeinig und untätig herum in Schuhgeschäften.

Gingen auch schnell noch nach Tampons in den Drogeriemärkten.

Und fuhren schließlich auf Rolltreppen hinunter zu den weiter reichenden Ebenen, auf denen die Kreuzung, an der auch er vorher noch gestanden hatte, wieder aufgeblendet wurde: die angrenzenden Gebäude, die auseinander rückten unter bläuendem kosmischem Licht, das die Ränder schwärzt,

und auch die Menschen rückten in eine Ferne mechanischer Abwicklungen oder in das Mittelbare eines Filmes, in Abläufe, die in einer Leere sich abspulen oder zumindest in Zusammenhängen, von denen man nichts weiß ...

2. Der Versuch, Authentizität herzustellen im Lehnen vor den Schaufenstern Moderner Antiquariate und sich umspülen zu lassen von Sex und abendlichen Lichtfluten im Taumeln kleiner weißer Blütenblätter: Kaum geht man raus aus dem Text, stellt sich Verständnis ein:

für das Handicap, daß die gedachte Welt die verkehrte Welt ist ­

für die in der Strickjacke, die eine Riesenschachtel Kelloggs Honey Balls im Arm trägt und mit ziemlicher Sicherheit den Markennamen ihrer Cornflakes nicht weiter assoziiert ( R e t t e s i c h, w e r k a n n, d i e V i e l- f a l t u n t e r m R e g i m e d e r ,K u l t u r d e s k l e i n- e n U n t e r s c h i e d s' ) (Laßt mich kurz noch die Ingredenzien eines ,guten' Spielfilms erledigen: action, romantik, humor, handlung, effekte, gut & böse und musik) ­

Verständnis auch für den ,coolen Szenetyp' im Military Look, der auf dem Bügel seiner Sonnenbrille kaut ­

für die Bulimische mit dem extremen Fliehkinn, der die Faustschläge der Norm ins Gesicht geschrieben stehen ­

für den jungen Punk mit den ausgekreuzten Deutschlandfarben aufm Parka ­

für die Lesbe in Schwarz mit den staubigen Stiefeln ­

für Lucie im kurzen Röckchen mit nüscht drunter, die ihm auf die Fingerknöchel klopfte: bpai la na

Fundamental beschädigt.

Und auf diesem Level läuft man dann Gefahr,

sich als metallenes Werkstück auf einem spanübersäten Frästisch wiederzufinden,

als Projektionsfläche der Kunst,

die aufgelöst werden will in existentiellen Bezügen,

dabei überfahren von schwebenden Messern,

die einem das Erlebnisfeld zerstückeln. Da muß man dann auch noch in die Grätsche gehen, damit die besser ans Arschloch kommen ...

3. „Dass die Authenzität in Wirklichkeit eine komplizierte Konstruktion ist, die das Private im fiktiven Text verortet." (Rainald Goetz) und daß jeder persönlich-dokumentarische Kontext, in der die Dinge des Privaten und Intimen nun einmal stehen, nicht einer Schamblendung durch überkommene moralische Parameter anheim fallen dürften, sondern allenfalls einer Auflösung in den Textstrukturen: blablabla –

Erstmal die Häkchen lösen

zwei Hände voll

als er auch schon satyrähnlich über ihr hockte

und sie ihre Beine zum V spreizte

diese Vulva gehörte zu ihm

der Pferdeschwanz, der über ihren Rücken schwang

Bauch an Bauch mit ihr zu liegen

Wimpern gucken & geschloss'ne Augen

mimetische Leguanin im Passat des Ventilators ­

die Reduzierung der Muster

aber intensiv ­ intensiver

als wenn sie wüßte, wie das alles werden muß

einfach muß ­

4. Die Verankerung des Alltags, der Enterhaken zur Normalität, der auszuwerfen ist, um nicht vorzeitig in den Edelstahlschüben (oder vor den Becken) der Gerichtsmedizin zu landen ­ die sind längst umgeformt worden: zu etwas, das einen zentrifugiert und aus seinen Schlünden ausspeit ­ im Bestfall bis über die Ränder hinaus ... über kontrollierten Wahnsinn zur kataklystischen Neuschöpfung ...

Ähnlich jenem Bestattungsunternehmer, der gegen Ende von Thomas Pynchons Roman Die Enden der Parabel. Gravity's Rainbow in einem Metallanzug und behelmt mit allerlei Drähten und Antennen auf die Ostsee hinausrudert, besessen davon, vom BLITZ! getroffen zu werden, ein Experimentator, der auf die plötzliche Eingebung, den genialischen Funken setzt, der überspringen soll vom Universum, auf das Licht, das ihm aufgeht (allerdings im Hinterkopf den Vorteil an der Klientel), jenen einzigen, rasierklingenscharfen Scheitelpunkt seines Daseins, der ihn kippt aus dem trägen, gleichförmigen Dahinziehen seines Lebens: dieser wiederkäuenden Kaugummi-Kontinuität, und der ihm das Einsteinsche ,Prinzip der lokalen Ursachen' aufreißt wie es ihm den elektrifizierten Arsch aufreißt („Oh, ho. Oh-ho-ho-ho!") und ihn, die Unendlichkeit auf der einen Seite, die Unendlichkeit auf der anderen Seite, drängt in Richtung des Modells der sich verzweigenden Welten der Quantenmechanik:

Wenn ich X mache, dann geschieht Xeins und Minus Xeins und bestimmt irgendetwas, was aus dem Bereich gängiger Vorstellungen herausfällt ...

Egal. Die hauptsächliche authentoide Einsicht ist, daß der Experimentator immer auch Teil des Experiments ist:

„It's on you to choose, brothers & sisters, whether you're gonna be the problem or whether you're gonna be the solution ..." (The MC5 Live!),

und ich bewundere Thomas Pynchon, der dies alles weiß ­

denn i c h weiß nicht allzu viel,

ich weiß z.B. nicht all das, was andere wissen ...

5. Das Problem mit dem Authenzitismus ist ja auch, „daß eine gespaltene Identität ein entwicklungsfähigeres Modell für diese Welt ist" (Kathy Acker), dissoziativ, aber es ist nun mal der Text, der Identitäten stiftet und in dem sich wiederzufinden ist als Schreibender, wie in den Verlautungen eines Kindes, das man in einen Kohlenkeller gesperrt hat und das nach einiger Zeit des Schreiens in der Dunkelheit beginnt zu singen – gegen das Alleinsein: Kinowelt=Traumwelt=daily life, in dem die Götter landen: „[...] was soll's, ihr Arschlöcher da oben, ich singe: jetzt habt ihr's" (Otto F. Walter), und das irgendwann abstumpft über die Rollen von Eltern, Schule, Staat und Militär, über seine Leidenschaften, Bücherregale, den Kollegen Klassenfeind, Paranoia, über all die Wohnklos, Haushaltsdefizite: „Was soll ich denn mit Arbeit? – Das, was ich brauche, ist Geld", und sich vollzieht der Brückenschlag vom Privaten zum Schreiben im öffentlichen Raum, jaja, der Große Überbau-Deal ...

E r sprang zurück auf den Bordstein...

Zivilisationsverwertung

Selbstmöblierung

Fabrikgeld

Fähnlein Marderschädel

Verkehrte Welt: Hatte dieselbe außer sich

Depression: die Trümmer von Lichtminen

„der rest sei eh für die fisch" (Ralf B. Korte)

Und operierte weiter mit dem Lumpen-Status. In Hemdsärmeln, mit einer Kippe, die ihm schräg von der Unterlippe hing. In der Küche mit einer Pfanne Bratkartoffeln hantierend. Penetrating the plant. Puppenstadium: Unter lederartigen Häuten, speckglänzend – eine Menschenmade, die bereitwillig die Taktik ihres Überlebens erklärte und jetzt mit schmutzigen Fingern fuhr durch etwas, das aussah wie Schmierfett, eine zusammengeflossene Nährstoffkombination im Hohlraum eines abmontierten Kotflügels, und daran leckte – „Eine daisy cutter der Ständigen Rentnervertretung!" hatte Harald Schmidt ironisch im Fernsehen geplärrt – Züge der Ignoranz, die an dürftigster Gardinchenexistenz herumschnippeln, bis sie am Ende in Fetzen hängt: „Willkommen in der Schönen Aussicht!"

Das ganze Sensorium!

Subversive Taktiken entwickeln!

Volksküchen & Selbstversorgungsgärten auch den Moabitern!

Windbeutelstreuungen!

D. Holland-Moritz

Von D. Holland-Moritz ist zuletzt im Merve Verlag, Berlin, der Erzählband „Lovers Club. Eine Stimme aus dem Off" erschienen.

Foto: Joerg Gruneberg

Foto: Jörg Gruneberg

 
 
 
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