Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Inseln der Glückseligkeit

Die Weinerei macht Theater

il mangiar bene. el ber vin eccellente.

tien grasso il corpo. e fa lieta la mente.

(Gut essen und vom Wein nur den besten trinken hält den Körper fett und macht den Geist fröhlich.)

Inschrift auf Oblaten, ca. 1100, Mittelitalien

Im kollektiven Bewußtsein der Völker, die das Trinken vergorenen Traubensaftes kultivieren, stellt Wein mehr als nur ein schnödes alkoholisches Getränk dar. Sein Genuß spricht alle Sinne an, durch seine rote Farbe läßt er sich gut mit Blut assoziieren, und seine berauschende Wirkung vollzieht sich auf angenehme Weise.

Auch kulturhistorisch kommt dem Wein große Bedeutung zu, stellvertretend sei hier nur auf die Bibel verwiesen, die mehrere Geschichten erzählt, in denen der Wein eine wichtige Rolle spielt. In der Genesis wird von Lots Töchtern berichtet, die sich des Weins als Komplizen bedienen, um sich von ihrem betrunkenem Vater, mangels anderer Männer, schwängern zu lassen und so das Volk der Moabiter in die Welt setzen. Wein ist hier das Mittel, das einen Zustand außerhalb der herrschenden Ordnung herstellt, in dem dann ein Tabubruch wie Inzest stattfinden kann, ohne sanktioniert zu werden. Und von Jesus heißt es, daß er sein erstes Wunder auf einer Hochzeit tat, als der Bräutigam nicht mit dem Durst seiner Gäste gerechnet hatte und demzufolge der Wein alle war, bevor das Fest richtig losgegangen war. Jesus half ihm aus der Patsche, indem er Wasser in Wein verwandelte. Ein fröhliches Fest ohne Wein muß für ihn unvorstellbar gewesen sein.

Heutzutage geht das alles etwas profaner zu. Wer sich mit gutem Wein versorgen will, kann z.B. in die „Weinerei" gehen, wo die beiden Inhaber Jürgen Stumpf und Philipp Gross eine ausgesuchte Auswahl an Weinen bereithalten, die für jeden Anlaß, jeden Geschmack und jeden Geldbeutel was zu bieten hat. Und daß durch Stumpfs Adern wahrscheinlich schon seit seiner Geburt eher Wein als Blut strömt, wird klar, wenn man sich die breite Auswahl an Frankenweinen mal etwas genauer betrachtet.

Aber das ist es nicht allein, was die Weinerei auszeichnet, denn da sind ja schließlich noch die Weinbars, die sich in den letzten Jahren aus der Weinerei kommend im näheren und weiteren Umkreis etabliert haben und eine Art Netz bilden, in dem der gepflegte Weingenuß mit gutem Essen und einem ökonomisch bemerkenswerten Modell verknüpft wird. Hier werden keine festen Preise verlangt, sondern es liegt in der Hand der Gäste, den monetären Gegenwert dessen einzuschätzen, was sie über den Abend hin konsumiert haben. Es mutet auf den ersten Blick ganz erstaunlich an, daß dies zu funktionieren scheint. Aber vielleicht funktioniert es auch gerade deshalb, weil es das feste Preis-Leistungs-Gefüge aufbricht, mit dem wir sonst als Konsumenten konfrontiert sind, und an die Eigenverantwortung appelliert – ein Modell, das in Zeiten der fortschreitenden Durchökonomisierung aller Lebensbereiche und Beziehungen einen Gegenentwurf aufmacht. Die entspannte Atmosphäre, die von den Läden ausgeht, bestätigt den Eindruck, daß es sich hier (Achtung Pathos!) um kleine Inseln der Glückseligkeit im rauhen Meer der Entfremdung handeln könnte.

Jetzt konnte sogar ein Theaterstück produziert werden, das WEINstueck nämlich, das neulich in der Villa Elisabeth seine Aufführung erlebte und dessen Protagonist der Wein selbst war. Theater und Wein eint das Moment der rauschhaften Entgrenzung – Wein als Mittel, Theater als Ort können diese Erfahrung ermöglichen. Realisiert wurde die Inszenierung von Heiko Michels, Fabian Larsson und Thomas Lilge, die sich auch hier, in der Villa Elisabeth, wieder der Herausforderung des besonderen Ortes stellten und damit an ihre Inszenierungen im Stadtbad Oderberger Straße oder in der UnsichtBar anknüpfen konnten. Inhaltlich zeigt das WEINstueck, daß die Beschäftigung mit dem Thema Wein eine lohnende Angelegenheit ist und auch für das Theater weit mehr zu bieten hat als das übliche Wein-Weib-Gesang-Sauflieder-Repertoire. An Originaltexten aus verschiedenen Jahrhunderten, angefangen im Mittelalter, wird der je nach gesellschaftlichem Kontext unterschiedliche Umgang mit Wein deutlich, der in seinen Funktionen als Rauschmittel, als Droge, als Produkt, als Ware gezeigt wird. Zusammengefügt als eine Art Collage gibt es demzufolge für die Schauspieler auch keine festen Rollen, sondern sie verkörpern in den einzelnen Szenen den Wein selbst.

So wird in einer Abhandlung vom Ende des 18. Jahrhunderts dargelegt, um wieviel effizienter es für den Staat ist, wenn seine Bürger immer genug Wein trinken, und daß es aus diesem Grund besser sei, das Importverbot für Wein aus Frankreich wieder aufzuheben. Der Wein gerät hier mitten in die politische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und Frankreich, wird auf der einen Seite zum Mittel, das die Effizienz des Staates steigert und dessen Fortbestand garantiert, auf der anderen ist er das Festgetränk der Revolution. Dramaturgisch wird dem Rechnung getragen, in dem es den in Korsagen gezwängten SchauspielerInnen gelingt, sich daraus zu befreien, den Wein in Strömen fließen zu lassen und die Revolution zu feiern, während im Nebenraum schon das deutsche Biedermeier mit steifen, hochgeschlossenen Kragen wartet.

Und heute? Wie ist es bestellt um die Möglichkeiten, den uns oktroyierten Zwängen zu entfliehen? In der Villa Elisabeth war dies mit Wein (der natürlich auch während der Vorstellung getrunken werden konnte) und Theater zumindest temporär gegeben. Bleibt zu hoffen, daß es weitere Projekte der Weinerei mit dem Trio Möller/Larsson/Lilge geben wird.

Carola Köhler

Weinerei, Veteranenstr. 14, Mitte, www.weinerei.com

Foto: Knut Hildebrandt

 
 
 
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