Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1904

30. Oktober

Die große Wohnhaus-Anlage, die der Vaterländische Bauverein im hohen Norden an der Hussitenstraße errichtet hat, wird am 30. Oktober nachmittags feierlich eingeweiht. Sechs mit Wohnhäusern umbaute Höfe liegen zu beiden Seiten einer neuen Privatstraße, der Versöhnungsstraße, die die Hussiten- mit der Strelitzer Straße verbindet. Der Verein ist eine Baugenossenschaft, die, 1902 begründet, für Arbeiter und kleine Beamte von christlicher und vaterländischer Gesinnung preiswerte und gesunde Wohnungen schaffen will. Sie ist aus den Kreisen der Arbeiter, die sich im Evangelischen Arbeiterverein und im Kartell christlicher interkonfessioneller Gewerkschaften zusammengeschlossen haben, entstanden. Der Anteil der Genossen, deren Zahl auf 600 gestiegen ist, beträgt 200 Mark.

Der Bau, dessen Kosten einschließlich Grunderwerb auf zwei Millionen Mark berechnet sind, wurde seitens des Kaiserpaares und der Staatsbehörden, insbesondere des Reichsamtes des Innern, des Eisenbahnministeriums, des Reichspostamtes und der Invaliden-Versicherungsanstalt gefördert. Der inzwischen verstorbene Baurat Schwarzkopf hat einen genialen Bebauungsplan entworfen. Die breiten Durchfahrten durch die sechs umbauten Gartengrundstücke stellen die geschichtliche Entwicklung Berlins dar.

Genossenschaften sind dauernde Personengemeinschaften zur Erreichung bestimmter Zwecke als Verein oder Gesellschaft, in der Rechtssprache werden so Körperschaften des deutschen Rechts bezeichnet, die keine Gemeinwesen (universitates) im römisch-rechtlichen Sinne sind wie Marktgenossenschaften, Gilden, Gewerkschaften usw. Meist werden Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften (cooperative societies, associations coopératives) so bezeichnet. Allerdings sind die in der österreichischen Gewerbegesetzgebung als Genossenschaft (Gewerbegenossenschaft) bezeichnete Zwangsinnung und die Dividendengenossenschaft des Versicherungswesens nicht als übliche Genossenschaften anzusehen. Bei Genossenschaften tritt, im Unterschied zu Handelsgesellschaften, bei denen reine Kapitalbeteiligungen vorkommen, die Person mit ihrer Verantwortlichkeit mehr in den Vordergrund.

Der Begriff ist allerdings je nach der Entwicklung der Praxis und der Gesetzgebung schwankend. Während bei den Personalgenossenschaften lediglich die Person als Träger der Mitgliedschaft erscheint, ruht bei den Realgenossenschaften die Zugehörigkeit zur Genossenschaft und das Maß der Anteilnahme auf bestimmten Vermögensrechten (Besitz eines Grundstücks, Waldteils), ist durch die Natur der Sache, durch Lage und Beschaffenheit von Gegenständen be-dingt (verschiedene landwirtschaftliche Genossenschaften, wie Meliorations-, Deich-, Be- u. Entwässerungsgenossenschaften, Waldgenossenschaften). In manchen Fällen unterscheidet sich die Haftpflicht der Mitglieder von derjenigen der Mitglieder einer Aktiengesellschaft überhaupt nicht. Es gibt freie neben Zwangsgenossenschaften, bei denen der Wille der Majorität oder des Gesetzes (Amtsgenossenschaften) den Beitritt erzwingt, den Austritt verhindert (Waldschutzgenossenschaften, landwirtschaftliche Meliorations-, Be- u. Entwässerungsgenossenschaften, Deichgenossenschaften oder Deichverbände). Daher ist der Begriff nur länderweise je nach den gesetzlichen Bestimmungen über die verschiedenen Gruppen zu geben.

Allerdings denkt man gewöhnlich, wenn von Genossenschaften schlechthin die Rede ist, an solche, die im Gegensatz zu den alten Zünften sich auf dem Wege freiwilliger Vereinigung bilden, um durch ihre Vereinigung die Vorteile des Großbesitzes und des Großbetriebes zu erreichen. Zweck der Genossenschaft ist es, durch Vereinigung von Kräften und Kapitalien wirtschaftliche Erfolge zu erzielen, die der Einzelne für sich allein nicht oder nicht in gleichem Maß erringen könnte. Solche Vorteile können bestehen in billigerem Erwerb (Konsum- und Kreditvereine, Rohstoff- und Baugenossenschaften), in gemeinschaftlicher Benutzung von Kapitalien, Maschinen, Verkaufshallen, Wasserkräften etc. (Werkgenossenschaften), im Verkauf auf gemeinschaftliche Rechnung (Absatz-, Magazingenossenschaften) oder in gemeinschaftlicher Produktion (Produktivgenossenschaften).

Falko Hennig

Falko Hennig lädt am 20. November um 20.30 Uhr zu Radio Hochsee ins Kaffee Burger: Themenabend Jörg Fauser, Gast-Experten: Matthias Penzel und Ambros Waibel. Weitere Informationen unter www.Falko-Hennig.de

Foto: Falko Hennig

Genossenschaften, die hohe Anforderungen in moralischer und wirtschaftlicher Beziehung stellen, haben in Deutschland bisher wenig Verbreitung gefunden.

 
 
 
Ausgabe 09 - 2004 © scheinschlag 2004