Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Hände reichen, Füße treten

Die Zukunft des „Zukunftsprogramms" Lokale Agenda 21

Am 28. September legte der Senat nach langer Verzögerung den Entwurf einer „Lokalen Agenda 21" (LA21) dem Abgeordnetenhaus vor. scheinschlag sprach mit Stefan Richter von der Grünen Liga Berlin, Geschäftsführer des Agendaforums und als Fachforumsleiter bei Klimaschutz-Projekten aktiv.

Bei der Vorlage des Agenda-Entwurfs sagte Stadtentwicklungssenatorin Ingeborg Junge-Reyer, daß die LA21 nur eine „Zielsetzung und Projektidee" sei und „keine Rechtswirksamkeit" haben werde. War das eine böse Überraschung?

Es hat sich lange angedeutet. Eigentlich war es so gedacht, daß man sich in den Fachforen, also auf der Arbeitsebene, auf ein Dokument einigt, das der Senat unverändert beschließt und dann dem Abgeordnetenhaus empfiehlt. Aber der Senat hat erst sehr spät begonnen, sich mit der LA21 wirklich auseinanderzusetzen. In einem Fachforum war er gar nicht präsent, in anderen waren nur wohlwollende Mitarbeiter da, die alles gut und schön fanden, aber wenig zu entscheiden hatten. Erst im Dezember 2003, als die LA21 zum ersten Mal verabschiedet werden sollte, sah sich die Staatssekretärin für Stadtentwicklung das an und sagte: Das geht so nicht.

Sie nannte es „sektiererisch".

Ja, das sagte sie zum Thema Verkehr, ihrem eigenen Ressort. Das gefiel ihr überhaupt nicht, was ich inhaltlich auch gewissermaßen verstehen kann. Aber die Art und Weise, wie der Agenda-Entwurf damals abgelehnt wurde, die paßte nicht. Wir haben uns dann auf einen Aufschub geeinigt, um nachzubessern ­ in der Hoffnung, daß der Senat den Entwurf dann auch mitträgt. Es gab eine ganz sinnvolle Überarbeitung, zum Teil war es sogar eine Vertiefung. Aber dann hat der Senat einfach seine Bewertung hinten rangehängt, dem Abgeordnetenhaus das Ganze „zur Kenntnisnahme" übergeben und klargestellt, daß er nicht mit allen Teilen einverstanden ist. Im schlimmsten Fall sieht das Abgeordnetenhaus alles genauso, dann ist das Drucksache soundso und verschwindet irgendwo im Archiv.

Es könnte aber auch passieren, daß die Abgeordneten ernsthaft darüber diskutieren.

Das wäre genau, was wir wollen. Daß die Agenda inhaltlich diskutiert und dann auch beschlossen wird, und zwar als Ganzes.

Die Agenda umfaßt die unterschiedlichsten Bereiche ­ von Umwelt über Ernährung bis zu Dritte-Welt- und Gender-Politik oder Kultur. Wo war die Bewertung durch den Senat besonders kritisch?

Das ist ganz unterschiedlich. Die Vorschläge zum Klimaschutz hat der Senat z.B. akzeptiert; da hatten wir auch die ganze Zeit über zusammengearbeitet.

Sehen Sie bei der LA21 einen Schwerpunkt bei technisch-ökologischen gegenüber sozialen oder kulturellen Themen?

Wenn die LA21 als ökologielastig gilt, dann nur, weil die Umweltinitiativen eine lange Vorgeschichte haben. Außerdem ist es in diesem Bereich einfacher, konkrete, quantifizierbare Ziele zu formulieren: Eine CO2-Reduzierung kann man messen. Das finden Medien schicker, und die Politiker verstehen es besser. Im sozialen Bereich ist das nicht so einfach.

Im sozialen Bereich kann man auch messen: mit Geld.

Aber eine Sozialhilfeerhöhung oder so etwas ist kaum eine Berliner Angelegenheit und außerdem unrealistisch. Da hat man den Senat nicht im Boot und auch sonst kaum eine gesellschaftliche Gruppe. Bei der Ökologie gibt es einen Grundkonsens. Alle wollen saubere Luft, da streiten wir uns nur über die besten Schritte. Im Sozialen gibt es keinen Konsens: Viele finden die Einkommensspreizung ja immer noch zu klein.

Man hat den Eindruck, daß es im Agenda-Prozeß zwei Gruppen gibt: Die einen feilschen über Schadstoff-Tonnen, die anderen verfolgen eher soziale Projekte, die aber oft auf der verbalen oder symbolischen Ebene bleiben. Die klagen dann, daß der Senat keinen neuen „Politikstil" lernt ­ das wirkt naiv, fast esoterisch. Wie paßt das zusammen?

Beides bedingt sich. Auch das „Feilschen" um Schadstoffe braucht einen neuen Politikstil. Der Staat ist ja kaum handlungsfähig, also müssen auch Wirtschaft und Bürgergesellschaft aktiviert werden. Die Verwaltung muß versuchen, in der Stadt Akteure zu finden, und sich auf Moderation konzentrieren. Z.B. das Projekt „Sonne über Berlin": Der Senat hat Gebäude, aber kein Geld, um ihre Energiebilanz zu verbessern. Also stellt er die Dächer Investoren oder ­ bei den „Bürgersolaranlagen" ­ engagierten Bürgergruppen zur Verfügung. Die installieren dort Photovoltaik-Zellen und finanzieren sich über die Einspeisevergütung. Das Geld bleibt im Land, die lokale Wirtschaft profitiert, der CO2-Ausstoß wird reduziert. Würde man alles dem Senat überlassen, kämen wir in dieser Stadt nicht einen Schritt weiter. Stattdessen arbeiten alle zusammen. Den Gruppen, die Sie „esoterisch" nennen, geht es eben vor allem um diese Form der Zusammenarbeit und des Miteinander-Redens, ums Formale.

Der Senat würde am liebsten nur die 32 „Leitprojekte" weiterfinanzieren. Was geschieht mit dem organisatorischen Überbau, dem Agendaforum?

Die Finanzierung ist bis Ende 2005 gesichert. Wir haben ganz gute Chancen, daß das Geld in die organisatorische Infrastruktur geht; sie ist absolut unverzichtbar. Was die Leitprojekte betrifft: Die sollten direkt über den Landeshaushalt finanziert werden oder z.B. über Lottomittel oder sie finanzieren sich aus eigenen Einnahmen ­ wie z.B. das Fahrradtaxi. Einige werden sich demnächst ohnehin von selbst erledigen ­ aus ganz unterschiedlichen Gründen. Andere kommen jetzt richtig ins Rollen. Die Chancen sind jedenfalls mit dem 28. September gestiegen. Jetzt gibt es für jedes Leitprojekt einen Ansprechpartner in der Verwaltung. Und die Senatsmitarbeiter, die der Sache offen gegenüberstehen, können sich auf einen Beschluß berufen, denn zumindest die Leitprojekte werden jetzt offiziell vom Senat unterstützt. Vielleicht kommen wir ja noch so weit wie in München oder Leipzig oder auch Treptow-Köpenick: Dort ist die gesamte LA21 beschlossen und politisch verbindlich. Aber dafür braucht man zuerst eine öffentliche Diskussion.

Aber die Medien zeigen kaum Interesse.

Die Themen der LA21 interessieren eben nur eine Minderheit.

Irritiert es Sie nicht, daß solche Themen immer dann öffentliches Interesse wecken, wenn sie nicht ­ wie bei der LA21 ­ per Konsens, sondern konfrontativ behandelt werden?

Bei einem Treffen mit den Medien sagte man uns, daß man den Eindruck hat, als ob wir uns im Agenda-Prozeß immer oben die Hände reichen und unten auf die Füße treten. Das mögen die Medien nicht, die stehen auf deutliche Konfrontation. Aber es geht nicht anders. Die Kompromißsuche ist ein Lernprozeß, für alle Seiten.

Sie sind nie in Versuchung, auch mal die Faust zu recken?

Das kann man woanders machen ­ z.B. bei bundespolitischen Streitpunkten wie der Atomenergie. Bei der LA21 geht es um konsensfähige Themen.

Interview: Otto Witte

Das Agendaforum plant die Gründung eines LA21-Vereins: die „Stiftung zukunftsfähiges Berlin". Informationen bei der Geschäftsstelle Agendaforum, fon 44339164, e-post info@agendaforum.de

 
 
 
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