Ausgabe 09 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Genesung, Gelassenheit und innere Freude

Begriffe wie Arbeitsanreize, Fordern und Fördern, Hilfe zur Arbeit usw. geistern schon seit längerem durch die Republik. Ebenso die Wünsche der Gegenseite: Recht auf Faulheit, Glück durch Arbeitslosigkeit, Zeit für Muße. Insbesondere im Osten des Landes erscholl dagegen – zumeist montags – die Forderung, den Leuten endlich Arbeit zu geben, damit auch sie beweisen können, daß sie zu etwas taugen. Zumindest für einige Menschen kann diese Debatte nicht anders als zynisch empfunden werden: für die kleine, aber zunehmend bedeutsame Zahl der Arbeitssüchtigen.

Noch sind sich Mediziner und Psychologen nicht ganz einig darüber, ob man den inneren Zwang zur Arbeit überhaupt als Verhaltensauffälligkeit von Krankheitswert bezeichnen sollte. Auch finden sich in den verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Ursachenerklärungen. Die einen sagen ­ wie es sich für gute Analytiker gehört ­, die Ursache sei in der Kindheit zu finden, sprich: Die Eltern waren einfach nicht lieb genug zu ihren Gören, so daß diese immer mehr leisten mußten, um Aufmerksamkeit und Schokoladeneis zu bekommen. Die anderen suchen den Grund für die Arbeitssucht ­ wie es sich für kritische Soziologen gehört ­ in den „gesamtgesellschaftlichen Umständen", sprich: Die Chefs bürden ihren Arbeitern immer mehr Verantwortung und Eigeninitiative auf und wenden gar sektenerprobte Mittel an, damit sich die Geknechteten auch mit dem Ausbeuterkonzern identifizieren. Eine Art ökonomisches Stockholm-Syndrom mit fatalen Folgen. Folgerichtig verhandelt der Jurist Oliver Tieste in seinem Beitrag im Sammelband Massenphänomen Arbeitssucht die Frage, ob man Arbeitssucht nicht als Berufskrankheit anerkennen solle. Dieser wahrhaft revolutionäre Vorschlag birgt traumhafte Möglichkeiten: Berufsunfähigkeitsrente mit Anfang 30, therapeutische Betreuung zur Rückfallvorbeugung inklusive.

Doch bis es so weit ist, müssen die Betroffenen sich noch selbst helfen, zum Beispiel bei den Anonymen Arbeitssüchtigen (AAS), einer weltweiten Selbsthilfegruppe nach dem Vorbild der Anonymen Alkoholiker. In Berlin gibt es gleich zwei mögliche Termine für Anonyme Arbeitssüchtige. Dienstags trifft man sich in einem typischen Nachbarschaftshaus in der Ostberliner Innenstadt. Die Zuständige für Öffentlichkeitskontakte ist an diesem Dienstag nur gekommen, um den Gruppenraum aufzuschließen, sofort muß sie weiter „zu einem Termin". Daß es in der Gruppe um Spiritualität ginge, kann sie noch schnell erklären. Daß wir eine höhere Macht anerkennen müßten, die uns helfen würde, mit unserer Sucht umzugehen, erläutert sie und klingt dabei so, als hätte sie die Informationsbroschüre der AAS auswendig gelernt. Bevor sie enteilt, erzählt sie noch, daß sie manchmal auch noch den zweiten Termin der AAS in Westberlin besucht, um nüchtern zu werden, wenn sie gerade besonders drauf sei. Heute wird sie wohl nicht mehr nüchtern.

Eine Journalistin wollen die Übriggebliebenen nicht während der Gruppensitzung dabeihaben. Sie könnten sich nicht öffnen, wenn sie befürchten müßten, man würde über ihre intimen Erfahrungen schreiben. Verständlich. Doch leider bleiben damit auch die Rituale, von denen sie unentwegt sprechen, im Dunkeln. Auf die Frage, ob ich auch betroffen sei von Arbeitssucht, antworte ich mit dem Verweis, ich sei freie Journalistin. Niemand grinst, Spiritualität verträgt sich nicht mit Ironie. Als Betroffene dürfte ich natürlich teilnehmen, werde ich wiederholt eingeladen. Doch zu absurd erscheint mir die Vorstellung, während eines Arbeitstermins die Bekämpfung meiner Arbeitssucht vorzutäuschen. Dann bliebe nur noch, einen Termin auszumachen, an dem sich die Gruppenmitglieder treffen, die an einer öffentlichkeitswirksamen Sitzung teilnehmen möchten. Ich lehne dankend ab, der Artikel müsse schon morgen fertig sein, ich sei in Eile. Wieder grinst niemand. Also ziehe ich ungeheilt von dannen.

Susann Sax

Informationen und Hilfe unter www.arbeitssucht.de.

 
 
 
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