Ausgabe 08 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Im Dunkel des Unbewußten

Highway Lehrter Straße: eine winterliche Begegnung mit dem Filmrauschpalast

Die winterliche Dauerdunkelheit an diesem 20. Januar läßt sich nur durch massive Selbstdisziplin ertragen. Der Wunsch, sich nicht allein durch einen solchen Abend zu schlagen, ist enorm. Der fast leere Bus 340 fährt mich durch die vergessene Lehrter Straße. Sie kommt auf meinem inneren Stadtplan nicht vor. Es regnet ununterbrochen, während wir am Poststadion, der JVA Plötzensee, dem pittoresken Antik-Baustoffhandel und der Fünfziger-Jahre-Wohnbebauung mit dem blauen Stadtmissionsplakat vorbeifahren. Ein Ort, den man lieber im Transit wahrnimmt. Mich erwartet ein dreiachsiger, nachgedunkelter, respekteinflößender Altbau, unsaniert, teils blinde Fenster, jedoch mit Logo und Schriftzug der Kulturfabrik gekennzeichnet. Türen stehen offen, Wände sind beklebt mit Ankündigungen und Zetteln aller Art, aus einer angelehnten schweren Eisentür donnert kurz extrem laute Musik. Schwarze Farbe, rote Schrift, Graffiti – ein seinen linken Hintergrund nicht verbergendes, sympathisches Durcheinander, das Erinnerungen an Zeiten lostritt, deren Spuren durch die Hauptstadtverhübschung in den neunziger Jahren aus dem Stadtbild gelöscht worden sind.

Foto: Jenny Wolf

Anders als im bronzetafelschwangeren Alt-Mitte findet man hier kein Hinweisschild. Ich wühle mich durch den Bau mit seinen endlosen Gängen und stehe plötzlich im geisterhaft leeren Foyer des Filmrauschpalastes. Der Raum ist hoch, völlig lichtlos, die Wände mit glasiertem Klinker ausgemauert, die Decke verrußt, es dominiert nuancenreiches Schwarz. Eine wunderschöne alte Kühltruhe markiert die Bar, beleuchtet durch ein schummriges, gelbes Edward-Hopper-Licht. Niemand ist da. Ich schaue mir die Filmplakate an den Wänden an, eine Mischung aus Seltenheiten, Trash und Klassikern des Independent-Kinos, dazwischen eine aktuelle Anzeige für einen Berliner Regisseur, der um die Ecke wohnt. Ein Mann müht sich an der Bar, aus dem Nichts aufgetaucht sortiert er seelenruhig Flaschen, öffnet Weine, putzt und schaltet Geräte ein. Ich grüße, er fragt interessiert, ob ich zur Godzilla Group gehöre, die heute hier ihren Filmabend abhält. Der Mann am Tresen grüßt ins Leere hinter mich, eine andere Tür klappt. Ein Mann mit Holzscheiten auf dem Arm tritt ein. Momentan vertrete ich die Godzilla Group immer noch allein. Der kleine, aber außerordentlich effiziente Kanonenofen bollert jetzt hörbar los. Hinter dem glühenden Eisen knackt das Holz, und angenehme Kaminwärme verbreitet sich, während Holzscheite nachgeschichtet werden. Ich sitze am lodernden Feuer, Musik läuft, deren Herkunft ebensowenig wie die der anderen Geräusche auszumachen ist, die stetig durch den Saal wabern. Meine Freunde irren vermutlich in den Gängen des Baus umher. Oder sie haben sie vergessen, die Lehrter Straße. Ein Vorgeschmack auf den Film, David Lynchs Lost Highway, beginnt sich zu verdichten.

Das Flimmern der Neonröhre intoniert das Vergehen der Zeit filmreif. Auch das Set ringsherum scheint echt, die schweren Türen, die abgedunkelte Barbeleuchtung, das organische Geflecht diverser, nicht zu betretender Räume. So sind tatsächlich Teile des Kellers sowie das Hinterhaus ab dem zweiten Stock baupolizeilich gesperrt. Gänge, die nirgendwo enden, Treppen, die sich wie von selbst verbieten ­ ein Bau, der sich effizienter Nutzung entzieht. Eine der Filmvorführerinnen erzählt mir, daß sie, obwohl schon ein Jahr hier arbeitend, gewisse Räume noch nie zu Gesicht bekommen hat, so ein unter dem Dach befindliches Fotolabor und Lagerräume im fernab liegenden Untergeschoß. Der Eindruck, in ein Bildgemisch unterzutauchen, das sich nicht in der realen Welt abzuspielen scheint, sondern im Dunkel des Unbewußten, ist perfekt. Der Lost Highway Lehrter Straße.

Der Kinosaal ist nur schwer beheizbar, deshalb liegen für die Besucher am Eingang Decken aus. Üppige, quadratische Polstersessel laden ein. Ein Mann vom Filmrausch sagt einige Worte zur Begrüßung. Ich sitze mit einer Freundin unter einer gemeinsamen Decke. Die Bilder des Vorspanns laufen ab. Ich werde aus dem kalten Raum weggesaugt. Die Kamera verschluckt schnell durch die Nacht fahrend den unterbrochenen Mittelstreifen auf einer Fahrbahn, es regnet. Dunkles Wummern der Bässe und kratzende und klopfende Geräusche ertönen. Bis zum Ende des Films verwirrt mich die Intensität der Tonspur. Lynchs obskure Bild- und Tonwelten verweben sich über die Leinwand hinaus mit dem ganzen Bau. Die Geschichte der Kulturfabrik liefert passend symbolisch aufgeladene Bedeutungen mit: die ehemalige Heeresschlachterei. Im Erdgeschoß befindet sich ­ jetzt eine Disco mit dem Namen Slaughterhouse ­ ein großzügig dimensionierter gekachelter Raum, der einst voller Schweinehälften gehangen haben muß, im Keller darunter lagern Reste eines S/M-Clubs, die als Ausstattung für Dreharbeiten entstanden sind, auch für Herr Lehmann oder Das Leben ist eine Baustelle war das Ambiente gut. Nebenan befindet sich im von Amts wegen baufällig erklärten Keller ein Musikstudio, im Dach die Dunkelkammer und zur Straßenseite ebenerdig ein Café. Das angrenzende Gebäude zum Hof hin, auf dem im Sommer Open-Air-Kino („umsonst&draußen") zu sehen ist, wird als die Schleicher-Fabrik beschrieben. Keiner kann mir sagen, ob sie einst Sarg- oder Klavierfabrik war ­ oder beides im zeitlichen Nacheinander.

Im Abspann steht, Lynch hätte selbst das Sounddesign verantwortet. Sicher bin ich nicht, was ich gehört habe: seine künstlichen Töne oder das Rumoren aus den vielen lebendigen Poren des Hauses. Eventuell übte doch eine Band oder die nachts arbeitenden Tiefbauraupen von der Baustelle des Lehrter Bahnhofes waren zu hören. Das Kino hier, ein Ausnahmeort, in dem sich das Erinnerungsvermögen auf der Patina des Gemäuers ausruhen kann. Ein Ort, der dem Unterbewußten alle Türen öffnet, indem er sich selbst an vielen Stellen dem konkreten Erfassen und Benutzen verweigert. Bei Lynch war das Tape, ein von unbekannter Hand gefilmter Gang durchs eigene Heim, der Auslöser für eine Reise in die Zwischenwelt von Irrationalität und Unterbewußtem in eine großartige Filmrealität. Der 20. Januar ist David Lynchs Geburtstag.

Christina Schachtschabel

Der Filmrauschpalast ist das Kino der Kulturfabrik in der Lehrter Straße 35, Tiergarten. www.kulturfabrik-moabit.de

 
 
 
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