Ausgabe 08 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Wo leben wir eigentlich?

Schrumpfende Städte im Osten und anderswo

Es ist nicht so, daß der Osten in der öffentlichen Debatte nicht vorkäme. Die Erregungswellen schwappen immer dann hoch, wenn in den neuen Bundesländern gewählt wird. Nun wird wieder erregt über den Osten debattiert. Den Auftakt gab im Frühjahr der Bericht der Dohnanyi-Kommission, eine nüchtern-niederschmetternde Bilanz des bisherigen „Aufbau Ost", dem der SPIEGEL eine Titelgeschichte widmete: 1,25 Billionen seien seit 1990 in den Osten geflossen, aus dem Aufbau Ost werde nun der Absturz West. Dann die Montagsdemos. Bundeswirtschaftsminister Clement erteilte den aufmüpfigen Ossis historische Belehrung: Schon der Vergleich mit den Demos von '89 sei „eine Zumutung, eine Beleidigung der historischen Montagsdemonstrationen und der Zivilcourage, die viele Ostdeutsche damals gezeigt haben". Und rief schließlich empört: „Wo leben wir eigentlich?"

Dem SPIEGEL zufolge handelte es sich bei den Demonstrationen um eine Melange aus cholerischen Eierwer-fern, Alkoholikern, PDS-Rentnern und Skinheads sowie Minderbemittelten, die einfach nur zu blöd sind, um Hartz IV zu kapieren; Zitat: eine „Mischung aus Ressentiments gegen Wessis, Demokratie und ´die da oben'".

Und dann noch die Wahlen in Brandenburg und Sachsen. Nicht nur bei Christiansen schimmerte durch alle mediale Deutungshoheit wieder die obligatorische Irritation durch: Was ist eigentlich los mit den Ossis? Diese West-Irritation faßte wiederum der SPIEGEL unter dem Titel „Jammertal Ost" zusammen: „Sie sind unzufrieden mit dem Leben, das sie haben. Sie klagen, sie jammern. Sie wählen radikale Parteien, links wie rechts. Sie wählen nicht. Sie stehen montags auf den Plätzen ihrer schmucken Städte und fluchen laut über Hartz IV." Und das bei all dem vielen schönen Westgeld, das seit dem Beitritt in den Osten geflossen ist: in Autobahnen und Spaßbäder, Sanierung, ABM und Renten (und manchmal auch wieder retour in den Westen). Wo leben wir eigentlich? Gute Frage.

Einige Antworten könnte man in der Ausstellung Shrinking Cities finden, die derzeit in den KunstWerken in der Auguststraße zu sehen ist. Die Ausstellung zeigt erste Arbeitsergebnisse des auf drei Jahre angelegten und von der Bundeskulturstiftung geförderten Projekts „Schrumpfende Städte", das Schrumpfung als globales Phänomen an vier unterschiedlichen Standorten untersucht: Detroit steht dabei für den Prozeß der Suburbanisierung, in dessen Folge über mehrere Jahrzehnte die Innenstadt entleert wurde, Manchester/Liverpool symbolisiert längerfristige Deindustrialisierungsprozesse, Ivanovo in Rußland gilt als Beispiel für „postsozialistische Transformation", während sich in der Region Halle/Leipzig gleich mehrere Prozesse überlagern: Systemtransformation, Deindustrialisierung, Suburbanisierung, demographischer Wandel.

Schon in jenem Teil der Ausstellung, der in Chronologien, mit Graphiken und Animationen die vier Standorte porträtiert, deuten nüchterne Zahlen die Lage an: Leipzig hat seit 1989 etwa ein Sechstel seiner Einwohner verloren, Halle seit 1980 sogar über ein Viertel. In beiden Städten steht jede fünfte Wohnung leer. Die Arbeitslosigkeit liegt in Leipzig offiziell bei 19,1 Prozent, in Halle bei 22,4 Prozent (dabei gilt Leipzig noch als Leuchtturm, andernorts ist die Quote deutlich höher). Eine steil abknickende Kurve abstrahiert den Absturz: In nur zehn Jahren, von 1990 bis 2000, sank der Anteil der Beschäftigten in der Industrie von 54 auf 29 Prozent.

Doch diese Entwicklung prägt nicht nur eine Region, sondern nahezu flächendeckend den gesamten Osten: Dem Beitritt 1990 folgte ein radikaler Deindustrialisierungsprozeß, der sich nicht schleichend vollzog, sondern innerhalb weniger Jahre den neuen Bundesländern nahezu komplett die industrielle Basis entzog. Kombinatsstrukturen wurden aufgelöst, Betriebe durch die Treuhand privatisiert oder abgewickelt. Die westdeutsche Industrie ließ keinen Zweifel daran, daß sie ganz pragmatisch zwar am Osten als Konsument, nicht aber als Konkurrent interessiert war. Frühere Treuhand-Mitarbeiter, selbst die damalige Chefin Birgit Breuel räumen heute offen ein, unter welchem Druck (von Konzernen, Gewerkschaften und Politik) damals gehandelt wurde – genauso, wie Ex-Kanzler Kohl heute eher beiläufig gesteht, sein Leitmotiv der „blühenden Landschaften" sei ihm damals so herausgerutscht.


Schrumpfung: Steffen Schuhmann

Hinzu kam eine in weiten Teilen verfehlte Subventionspolitik, die etwa durch steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten im Immobiliensektor dafür sorgte, daß ein künstlicher, ungesteuerter Bauboom ausgelöst wurde, in dessen Folge nun zahlreiche Investruinen in den ostdeutschen Landschaften blühen. Weitere Mittel flossen in eine Arbeitsmarktpolitik, die die so „Betreuten" oftmals lediglich auf ABM-Umschiebebahnhöfe und in eine „Maßnahmenbiografie" schickte.

Wo einem Land quasi über Nacht die industrielle Basis entzogen wird, können auch ein paar „Leuchttürme" und ein „tertiärer Sektor" nichts richten. In der Folge wanderten die Menschen – insbesondere die Jüngeren, Flexibleren und gut Ausgebildeten – in Scharen ab, der Arbeit hinterher Richtung Westen. Seit 1990 haben die neuen Bundesländer über eine Million Menschen verloren, ein Ende ist nicht in Sicht. 1,3 Millionen Wohnungen stehen im Osten leer und etliche Kommunen mit dem Rücken längst an der Wand. Und der Leerstand wird weiter wachsen, die demographische Abwärtsspirale ist mit dem drastischen Geburtenknick unmittelbar nach der Wende und der Abwanderung insbesondere jüngerer Frauen längst in Gang gesetzt. Ein Worst-Case-Szenario des Leipziger Instituts für Länderkunde prognostiziert für 2050 eine Halbierung der Einwohnerzahl im Osten auf 8 Millionen. „Der Osten verdummt, verarmt und vergreist", warnt Edgar Most, neben Dohnanyi Mitglied des „Gesprächskreises Ost".

Doch bislang wurde politisch vor allem auf die Nöte der Wohnungswirtschaft reagiert ­ mit einem milliardenschweren Abrißprogramm, dessen von ökonomischen Zwängen diktierte und letztlich absurde Wirkungsweise in der Ausstellung durch einen Comic von Rochus Wiedemer einleuchtend erklärt wird. Und wie makaber liest sich allein dieser Satz der Chronologie: „Die Wohnungsbaugesellschaft Frohe Zukunft beginnt 2001 als erstes Unternehmen in Halle mit dem Abriß von Plattenbauten."

Dabei ist der Wohnungsleerstand nur ein Teil des Problems: Schrumpfung greift in alle Lebensbereiche ein. Was bedeutet es für die zurückbleibenden Bewohner schrumpfender Städte und Regionen, wenn sie zwar schmucke Marktplätze und erneuerte Straßen vorfinden, aber Jugendclubs, Schulen und Kindergärten geschlossen werden, Briefkästen demontiert und Buslinien eingestellt werden, Theater dichtgemacht werden und Geschäfte eingehen? Wenn die Nachbarn wegziehen und die eigenen Kinder, weil sie hier keine Zukunft mehr sehen? Wenn soziale Netzwerke zusammenbrechen und Arbeitslosigkeit zum Dauerzustand wird? Was machen sie mit ihrer „freigesetzten", nicht mehr von Arbeit bestimmten Zeit? Was bedeutet es für eine so stark von Arbeit geprägte Gesellschaft wie die der DDR, wenn Arbeit zum Luxus wird?

Einige Arbeiten der Ausstellung thematisieren solche Fragen. Zum Beispiel die Installation Halle-Silberhöhe oder: Das Schweigen von Alice Schmidt wird unterbewertet: Eine Fotosammlung aus dem VEB Chemische Werke Buna von 1960 bis 1990 dokumentiert, wie stark das betriebliche mit dem Alltagsleben verwoben war. Gleichzeitig erzählen Bewohner in Interviews von ihrem Leben in der werksnahen Großsiedlung Halle-Silberhöhe vor und nach der Wende: „Das Haus wurde erst 1991 fertiggestellt. Das war das Jahr, in dem mein Vater arbeitslos wurde."

Wo leben wir eigentlich? Vielleicht geht es bei den Montagsdemonstrationen gar nicht um Details von Hartz IV, sondern um das Gefühl, abgeschrieben zu sein. Viele spüren längst die bitteren Wahrheiten, die ihnen bislang verschwiegen worden sind: Daß es für etliche Regionen keine Umkehr mehr gibt, daß in vielen Landstrichen, Städten und Siedlungen bestenfalls das Sterben begleitet werden kann. Wie muß es dann den Leuten in Hoyerswerda, Weißenfels oder Wolfen-Nord in den Ohren klingen, wenn Kanzler Schröder in Rostock verkündet, er lasse sich den Aufbau Ost nicht kaputtreden; wenn Clement die Langzeitarbeitslosen „fordern" will und der SPIEGEL den Jammerossis endlich Eigeninitiative abverlangt – dort, wo die Grundlagen für eigenständige Entwicklungen so radikal abrasiert wurden.

Einerseits war der Osten eine Art Experimentierlabor – insofern, als er nach 1990 brachial das erlebte, was erst allmählich auch den Westen erfaßt: Deindustrialisierung, demographische Schrumpfung und Alterung, Globalisierung. Andererseits hätte es, um das Labor zu produktiven Forschungsergebnissen zu bringen, auch der Zulassung neuer Instrumentarien bedurft, statt die Glocke der alt-bundesrepublikanischen darüberzustülpen. Nun läßt sich – dokumentiert auch in der Ausstellung – Pioniertum vor allem im Individuellen beobachten, dort, wo Menschen beginnen, mit der ungewohnten Leere neu umzugehen: Wo leben wir eigentlich?

Öffentlich wird derweil weiter Klage darüber geführt werden, daß der Ostklotz am Bein den Westen nach unten zieht. Aber schwingt in dieser Klage nicht auch Angst vor der eigenen Zukunft mit?

Ulrike Steglich

„Shrinking Cities", noch bis zum 7. November in den KunstWerken, Institute for Contemporary Art, Auguststraße 69, Mitte. Zur Ausstellung erschien die Begleitpublikation „Schrumpfende Städte. Band 1: Internationale Untersuchung", herausgegeben von Philipp Oswalt, Verlag Hatje Cantz, Ostfildern 2004, 22 Euro. Ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm begleitet die Ausstellung. Näheres unter www.shrinkingcities.com

 
 
 
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