Ausgabe 08 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Heißer Herbst?

Die Proteste gegen Hartz IV fingen früher an als geplant

Foto: Knut Hildebrandt

Ganz überrascht gaben sich die Grö-ßen der bundesdeutschen Politik, als sich im Anschluß an die Verschickung der Formulare für das neue Arbeitslosengeld II in größeren Mengen Menschen zum Demonstrieren auf die Straße begaben, die das normalerweise nicht tun. Seitens der Bundesregierung waren die Reaktionen anfangs geradezu hysterisch, während man in der wahlkämpfenden sächsischen CDU-Spitze zeitweise damit kokettierte, sich selbst an den Aufmärschen zu beteiligen. Dieser Widerhall und die in allen Massenmedien ausgetragene Debatte darüber, ob es nicht eine Anmaßung der Protestierenden sei, sich einfach in die Tradition der Montagsdemonstrationen zu stellen, hat nicht unerheblich dazu beigetragen, daß bundesweit inzwischen in 230 Städten derartige Demonstrationen stattfinden. Woche für Woche begeben sich seitdem über 100000 Menschen auf die Straße und protestieren gegen die Sozialpolitik der Bundesregierung. Um die gerufenen Geister wieder loszuwerden, hat sich das politische Personal offenbar irgendwann entschieden, die Schose einfach auszusitzen und nicht mehr so viel darüber zu reden. Tatsächlich kommen seit ein paar Wochen immer weniger Menschen zu den montäglichen Aufmärschen. Die Berliner Zeitung frohlockte unterdessen bereits, die Montagsdemonstrationen seien gescheitert. Diese Einschätzung könnte sich allerdings als voreilig erweisen.

Die seitens der politischen Führung inzwischen zur Schau gestellte Gelassenheit verdeckt nur notdürftig ihre Nervosität, die sich neben den Straßenprotesten aus den Wahlerfolgen von PDS und neofaschistischen Parteien speist. Laut einem Bericht der Mitteldeutschen Zeitung bereitet sich die sächsisch-anhaltinische Polizei darauf vor, „daß ´ein Normalteil der Bevölkerung' außerhalb eines radikalen politischen Spektrums zielgerichtet auch gegen Einrichtungen der Bundesagentur" vorgeht. Abgesehen von den Arbeitsämtern sei „nicht auszuschließen, daß noch andere Institutionen wie politische Parteien, Medienanstalten (...) unmittelbares Ziel von aggressiven Akten werden". Diese etwas paranoid anmutenden Szenarien erklären sich wohl hauptsächlich daraus, daß niemand genau weiß, was die zigtausend Menschen, die da jeden Montag demonstrieren, eigentlich denken, worüber sie reden und was sie noch aushecken werden.

Das ist auch wirklich schwer einzuschätzen. Von verschiedensten Seiten versuchte man, die Führung über die neue Bewegung zu erlangen, unabhängig davon, was die Leute denken, für die man zu sprechen vorgab. Einige Demonstrationen wurden gar, wenn auch nicht sonderlich erfolgreich, von Nazis organisiert. In Leipzig, wo sich zwischenzeitlich die meisten Menschen einfanden, meinten abgehalfterte Berufspolitiker, im Sinne des Volkes sprechen zu können. Ein antideutsches „Bündnis gegen Realität" verlieh währenddessen dem in der linken Szene verbreiteten Lebensgefühl Ausdruck, wonach hinter jedem ostdeutschen Baum ein Faschist lauere, indem es versuchte, den „völkischen Aufmarsch" zu blockieren. Linke Gegner sind aber weniger gefährlich als linke Freunde. So konnten die Berliner Organisatoren durch eine rechtzeitige Aufteilung in zwei getrennte Umzüge zwischenzeitlich dafür Sorge tragen, daß ihnen die Sache nicht über den Kopf wächst und zu viele Menschen den langen Weg vom Alexanderplatz zur SPD-Zentrale gehen oder sich die gegenseitigen Beschimpfungen über die Lautsprecherwagen zu Gemüte führen müssen, als man doch wieder gemeinsam ging.

Linke Organisationen haben aber doch nicht genügend Mitstreiter, um flächendeckend alle Versuche von Selbstorganisierung vereiteln zu können. Die meisten Montagsdemonstrationen finden ohnehin in der Provinz statt. Im südbrandenburgischen Senftenberg, einem eher beschaulichen kleinen Örtchen, gehen jede Woche zwei- bis dreitausend Menschen auf die Straße. Das ist an sich schon beeindruckend. In Senftenberg sieht man aber außerdem überhaupt keine Organisationen, keine Partei- oder Gewerkschaftsfahnen und keine professionellen Transparente ­ auch keine von ihren Organisationen abgestellten Redner. Dort gibt es ein offenes Mikrofon, wo sich Leute äußern, denen man anmerkt, daß sie es nicht gewöhnt sind, vor so vielen Menschen zu reden. Dort findet eine unkontrollierte öffentliche Debatte statt. Das ist viel bedrohlicher als möchtegernradikales Geschrei.

Auch wenn die Montagsdemonstrationen in den letzten Wochen etwas abflauten, waren bundesweit immer noch knapp 100000 Menschen auf der Straße, und ein neuer Höhepunkt wird bereits vorbereitet: eine zentrale Demonstration am 2. Oktober in Berlin. Es ist zwar keineswegs ausgemacht, daß sämtliche Montagsdemonstranten den Weg dorthin finden, schließlich sind die meisten von ihnen unorganisiert. Jedoch kam die Versammlung der Montagsdemonstrationen mit diesem Aufruf dem Vorbereitungskreis für die Manifestation am 1. November letzten Jahres zuvor, an der immerhin auch 100000 Menschen teilnahmen. Dieser bereitet nämlich seit einiger Zeit eine „Kampagne für einen Heißen Herbst" vor, mit einem Höhepunkt am 6. November, an dem eine zentrale Demonstration in Nürnberg vor der „Bundesagentur für Arbeit" stattfinden wird.

Interessant könnte es werden, wenn sich die beiden Mobilisierungen gegenseitig stärken. Haben die Montagsdemonstrationen ihren Schwerpunkt in Ostdeutschland, so ist der Vorbereitungskreis für die Nürnberger Demonstration eher im Westen verankert. Es könnte also durchaus eine gesamtdeutsche Bewegung entstehen, in der sicher auch weitergehende Aktionsformen auf fruchtbaren Boden fielen. So gibt es bereits jetzt verschiedene Aufrufe, die Abgabe der Anträge auf Arbeitslosengeld II zu verzögern, um den Arbeitsablauf in den Arbeitsämtern zu sabotieren. Und auf dem internationalen Kongreß „Die Kosten rebellieren", der im Sommer in Dortmund stattfand, beschloß man, am Montag, dem 3. Januar 2005, bundesweit die Arbeitsämter und die „Personal Service Agenturen" zu schließen – durch Versammlungen, Blockaden oder Besetzungen.

Søren Jansen

 
 
 
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