Ausgabe 07 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Atemübungen im Zentralpark

Henri Cartier-Bresson und seine Momentaufnahmen allegorischer Trümmerlandschaften

Der Schnappschuß stiehlt das Leben draußen und gibt es als etwas Totes wieder. Deshalb erscheint er als abrupt, aggressiv und künstlich, so überzeugt wir auch von seiner realistischen Genauigkeit sein mögen.

(Thierry de Duve, Zeitbelichtung)

Ja, ich habe es gehört. Henri Cartier-Bresson ist tot. Zu K. sage ich, daß ich schreiben werde, endlich sei Bresson gestorben, belästige er uns nicht länger mit seiner Schnappschußphilosophie. K. guckte mich darauf etwas erstaunt und nicht gerade zustimmend an. Ich hatte das fotografische Genie pietätlos in den Dreck gezogen, räumte ehrlich bereuend ein, daß ich nichts gegen seine Arbeit, seine Fotos im großen und ganzen habe. Vielleicht war es auch einfach die Hitze an diesem Augusttag. Bresson hatte ja schließlich die letzen Jahre viel mehr gezeichnet als fotografiert. Ich ahnte halt sofort, daß nun alles um den Schnappschuß-Mythos herum noch fester, noch bestimmter hochgezogen und verabsolutiert werden könnte – die ersten eiligst verfaßten Nachrufe bestätigten diese Erwartung dann auch – und mich beschlich beim Betrachten seines umfangreichen Œuvres wieder diese Abneigung gegen den unsichtbaren Fotografen, wie er ja oft betitelt wurde, da viele gar nicht merkten, wann oder daß er eine Aufnahme machte.

Ich werde, wenn diese extrem massenkompatible Person als feste Institution für das fotografische Sehen, den fotografischen Blick hergenommen und gesetzt wird, mißtrauisch. Mehr noch, übelgelaunt, sauer. Was hat es denn mit diesem Mythos des fotografischen Auges auf sich? Welche Disposition liegt bei einem Menschen vor, der, wenn er etwas erblickt, ­ in diesem Fall ja besonders unter Verwendung seines Sucher-Rahmens ­ dieses Etwas dann aus dem Zeitverlauf/Chronos herausnimmt, in Kairos verwandelt und es damit festschreibt und erhebt? Worum handelt es sich bei diesem Konservieren/Veredeln? Ist es nichts anderes als Erinnerungsarbeit, wie es Jacques-Henri Latigue einmal audrückte, wobei er das Kameraobjektiv als das Auge seines Gedächtnisses wähnte? Was passiert also genau beim Schnappschuß, und welche Methoden wurden dabei von Bresson verwendet, der sich in bezug aufs Fotografieren hartnäckig auf seine Intuition berief?

Aktualität einer Fotografie meint also jene Grauzone des Authentischen, in der die scheinbare visuelle Präsenz der Dinge sich mit der Phantasiearbeit des Betrachtenden vermischt, um dem Dargestellten einen Sinn zu geben.

(Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse)

Die Massenwirkung von Bressons Ästhetik ergibt sich zunächst aus der Tatsache heraus, daß viele seinen Lehrsatz vom „entscheidenden Augenblick" als Glaubensbekenntnis übernommen haben. Ich bin ein großer Anhänger der sogenannten Amateurfotografie. Gerade auch, weil mich das Moment des ­ scheinbar ­ unbewußten Fotografierens sehr interessiert. Ich stimme zu, daß Bresson grandiose und auch einfühlsame Aufnahmen gemacht hat. Es ist beileibe kein Naturgesetz, daß ein Schnappschuß keine großartige Aura oder Atmosphäre wie eine inzenierte Aufnahme haben kann. Im Gegenteil: Bilder im Vorübergehen, flüchtige Augenblicke, haben oft diese Magie des Einmaligen, Unwiderbringlichen. Und sie spiegeln diesen eigentümlichen Charakter jeder Fotografie besonders gut wider, ein kurzes Zeitstück aus dem großen Zeitstrom herausschneiden zu können. Wenn z.B. ein Hund sich streckt, dann hat das seine Dauer ­ und viele kennen die Dauer eines Hundestrekkens aus Erfahrung. Auf solche „Zeit-Happen" wartete Bresson unermüdlich.

Verblüfft war ich, als ich Bressons Bilder mit denen Robert Capas verglich. Capas Standpunkte und Haltungen kann man regelrecht körperlich nachempfinden, spüren. Bressons Körperlichkeit dagegen erschließt sich mir schwer. Er bleibt Geist, Phantom. Dies muß aus Sicht der Aufgenommenen irgendwo zwischen putzig und unheimlich diskret gewirkt haben. Im besten Sinne verhielt er sich neutral. Dieses Moment ist ihm andererseits in vielen kritischen, aufgeladenen Situationen sichtbar zugutegekommen. Mancherorts kann man nur fotografieren, wenn man gar nicht wahrgenommen, in Geschehnisse miteinbezogen wird.

Bei Porträtaufnahmen schlägt das dann oft ins Gegenteil um. Nicht zuletzt deshalb, weil es heute unzählige Fotografien gibt, auf denen die Personen ähnlich beiläufig abgelichtet wirken. Besonders in Prominentenporträts, die im Auftrag für Magazine und Zeitungen angefertigt wurden. Da dies heute sogar eher als Qualitätsurteil angesehen wird denn als Mangel, sieht die Mehrzahl der Betrachter Bressons Bilder nurmehr als Bekräftigung dieser „Schule". Es ist schon beinahe niedlich anzusehen, wie unbeteiligt und dennoch bereitwillig sich die Prominenten bei Bresson geben. Sein Interesse für Personen scheint ­ im Moment der Aufnahme ­ ebenso abgeschnitten und zweitrangig wie bei allen anderen Aufnahmen. „Wenn Bresson nach China reist, zeigt er, daß es Menschen in China gibt ­ und daß sie in China sind", sagte in dem Zusammenhang Susan Sontag. Er ist sich dieser Passivität bewußt. Nicht bewußt geht er damit um, wie seine Anwesenheit/Abwesenheit später in den Bildern vom Betrachter gedeutet werden könnte ­ im Sinne von Dorothea Langes Ausspruch, daß „jedes Porträt eines anderen Menschen (immer auch) ein Selbstporträt des Fotografen ist".

Ich vergleiche noch einmal zwei Aufnahmen von Bresson und Capa. Bresson fotografierte 1946 Truman Capote, Capa seinerseits John Steinbeck. Das Capote-Bild besticht durch einen interessanten Aufbau, mit dieser typischen „Zeit-Happen-Spannung", die sich aus dem Umstand ergibt, daß sich in dem Pflanzenwirrwarr hinter Capote (er sitzt auf einer Bank in einer Art Gewächshaus) eine schwarze Gestalt verbirgt, die sich ihm zu nähern, ihn zu belauern oder zu beobachten scheint. Capote wird zudem in irgendeiner Bewegung ­ vielleicht beim Aufstehen, Hinsetzen ­ gezeigt, und es entsteht dadurch eben dieses „punctum" (Roland Barthes): Gerade (noch) erwischt bei irgendetwas Außergewöhnlichem, beim Böse-Gucken, Stirnrunzeln, Rauch ausatmen usw. Irgendetwas Unvorhergesehenes passiert. Wie auch bei einem weiteren Porträt: William Faulkner blickt gerade einigermaßen teilnahmlos nach rechts. Bresson entdeckt den derweil sich genüßlich ausstreckenden Hund Faulkners und verewigt diesen Moment. In Capas Porträts geschehen dagegen eher normale Dinge. Capas Apparat-Blick erscheint natürlicher, genügsamer ­ auch gewöhnlicher. Er schafft keine Barriere zwischen Aufgenommenen und Fotograf. Bresson bleibt der Geometrie, der Abstraktion verhaftet. Gerade Amateure und Anfänger, die schnell ergriffen sind von diesem „Aus-allem-und-jedem-ein-gutes-Bild-Konstruieren", sehen den Grund dafür nicht, d.h. die unglaubliche Fülle von historisch-klassischen Bezügen in Bressons Bildern, die er seinem Füllhorn, seinem Wissenskatalog, den Trümmerlandschaften der Kunstgeschichte entlockt. Gerade wegen dieses atemberaubenden Manierismus' und obwohl die Bilder ­ im Wortsinn ­ oft gekünstelt, betont außergewöhnlich erscheinen, werden sie landläufig schnell als „gute Bilder" verifiziert.

Offenbar ist doch die Reduktion der Zeit auf einen Punkt, auf einen Ort, der bei höchstem Wirklichkeitsbezug gerade seine zeitliche Qualität einbüßt, das Ergebnis einer immensen Abstraktionsarbeit.

(Bernd Busch, Belichtete Welt)

Warum diese Ästehtik? Was für Gründe gäbe es denn für die Vorgehensweisen Bressons? Bresson verwendet die klassischen Blaupausen genau aus dem Grunde, weil er sich der Tradition verpflichtet fühlt, diese erhalten sehen mag. Zum anderen benutzt er auch die Kompositionsschemata der damals noch jungen Moderne, den Kubismus, den Surrealismus usw., um sich des Bildraums zu bemächtigen. Viele seiner Landschaftsbilder erinnern an historische Landschaftsmalerei. Sein Foto einer Allee mit Bäumen taucht da unvermittelt beim holländischen Landschaftsmaler Meindert Hobbemas (Die Allee von Middleharnis, 1689) wieder auf. Ein schrägstehendes Kreuz auf einem Friedhof findet sich gleich in mehreren Gemälden der Romantik, so z.B. bei Carl Gustav Carus (Friedhof bei Imming, um 1822). Sein Spiel mit Licht (z.B. Nebelbänke auf der Seine) erinnert manchmal an Caspar David Friedrich-Sujets. Sehr viele Gemeinsamkeiten finden sich auch beim Vergleich mit Pieter Breugel d.Ä. und dessen Sinn- und Sittenbildern (siehe z.B. Bressons Angler auf einem zugefrorenen See). Breugels Hang zur Allegorie, zum Sinnbild tritt auch bei Bresson als starkes Motiv hervor. Er benutzt dazu ­ ganz ähnlich der Montage im Film ­ bestimmte syntaktische Elemente für seine Bildaussagen, bevorzugt dabei, neben der einfachen symbolischen Tönung (z.B. Altes Fischerboot), vor allem synekdochische und metonymische Sprachelemente. Die assoziierten Details erzeugen hierbei in den Bildern bisweilen abstrakte Ideen (Metonymie), bzw. kann ein Teil als Verweis auf ein übergeordnetes Ganzes stehen (Synekdoche). Oftmals entsteht so ein ornamentaler Tableau-Charakter: z.B. ein Park oder ein Dorf mit kleinen, aus der Ferne gesehenen Menschen, die ganz geduldig „abgepaßt" und graphisch genau an ihre Plätze „gesetzt" werden. Auf vielen Bildern sieht man Menschen in Eingängen oder Fenstern als erweiterte Bildrahmen. Bildsprachlich stehen diese Menschen dann für einen bestimmten Ort, eine bestimmte Lebensweise (Wohnen, Habitus usw.).

Während die Rechenschaft feststellt, was die Gegenstände sind, bemerkt die Sentimentalität, was ihnen fehlt.

(Heinz Schlaffer, Faust Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts)

Bresson konnte die Momentaufnahme transzendieren, den Kosmos der Zentralperspektive in der abendländischen Kultur auf neues Terrain ausdehnen. Er erscheint mir fast als prähistorischer Vorfahre des modenen Fototouristen ­ immer etwas unheimlich, phantomhaft vagabundierend, ohne feste Absichten in bezug auf Orte und Menschen, aber immer die eigene Kultursicht im Schlepptau. Der Tourist lebt genau für diesen Impuls, diese erregende Stimmung, kostet sie aus, wobei in der Verbindung mit der Kamera „das Prinzip der Rahmenschau zum Ausdrucksmittel innerer Stimmungen, zum Vehikel der Bewältigung von Einsamkeit und Weltverlust wird" (Bernd Busch). In seiner Pionierphase gab der Schnappschuß, die Spontanaufnahme im wahrsten Sinne das „Futter" für die ersten Fotoreporter, dieser ganz neuen Mischung aus Kunstbohèmiens und Abenteuerreisenden. Robert Capa erkannte diesen Freiraum als einer der ersten. „Laß Dich nicht einordnen, bleib Reporter, so kannst Du weiter machen, was Du willst", sagte er zu Bresson. Dieser blieb nicht immer Reporter, aber tat weiter, was er wollte, wurde dabei 95 Jahre und starb vor wenigen Wochen. Er hinterläßt eine ganze Armee von Nachfolgern, Antizipations-Produzenten, ausgestattet mit augengesteuerten Fernreise-Automaten.

Jörg Gruneberg

Das Museum Ludwig in Köln zeigt anläßlich des Todes von Henri Cartier-Bresson noch bis zum 12. September die Fotos der legendären Kölner Bresson-Ausstellung von 1967, www.museum-ludwig.de

Fotos: Shigeru Sato (Brücke), Jens Albrecht (Springer)

 
 
 
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