Ausgabe 07 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1884

Der Norden von Berlin wird nach der Stadtseite hin durch die Straßenzüge begrenzt, welche sich vom Oranienburger Thore bis zum Prenzlauer erstrecken. Oranienburger Thor, Hamburger Thor, Rosenthaler Thor, Schönhauser Thor, Prenzlauer Thor – dies Alles ist Norden von Berlin. Die Namen der Thore sind geblieben, obwohl diese selbst gefallen. Aber es ist noch nicht lange her – man kann an den Bezeichnungen leicht ermessen, wie lange – da war Berlin zu Ende, wo jetzt Elsässer und Lothringer Straße, breit und prächtig, wie Avenüen sich ausdehnen, und damals schmale Pfade, mit allem Abfall der Nachbarschaft bedeckt, hinter einer trübseligen Stadtmauer die Communicationen vermittelten. Sie hießen auch nicht Straßen, sondern „Communicationen" und gingen um die ganze Stadt herum; es gab eine Communication am Potsdamer und am Anhalter Thor, wie hier eine Communication am Rosenthaler und am Prenzlauer Thor, und ihr Aussehen war überall dasselbe.

Und welch' ein farbenreiches Bild neuesten Berliner Lebens, wenn man auf den Platz vor dem Rosenthaler Thore hinaustritt – desjenigen Lebens, welches überall in dieser großen Stadt pulsirt, nirgends aber, zu gewissen Stunden des Tages, stärker, intensiver, als hier. In Abendsonne getaucht liegt dieser weite Platz, in welchen fünf Straßen münden. Rechts und links öffnen sich die Lothringer und die Elsässer Straße, zwischen oder hinter deren hohen, schönen Gebäuden kaum noch ein Überbleibsel der alten Communication, Schuppen, Schornstein oder nackte Brandmauer sichtbar ist, in der Mitte boulevardartig mit Bäumen bepflanzt, die hier, in der Breite des Bodens und freien Circulation der Luft, vortrefflich gedeihen. Und welches Durcheinander von Pferdbahnwagen, Omnibussen und Menschen! Denn dies ist die Stunde, wo die Fabriken schließen und die Arbeiter heimkehren; und wenn man um diese Zeit in die Linienstraße hinein, etwa bis zur Gollnowstraße gehen wollte, so würde man es, bei der Enge dieser Straßen und ihrem schmalen Trottoir, oft schwer genug finden, überhaupt vorwärts zu kommen.

Denn die ganze Schar der Arbeiter wälzt sich hier in dichter Masse dem Wandernden entgegen. Sie kommen vom Nordosten der Stadt und ziehen alle gegen Norden. Hier aber spaltet sich der Strom und ein Arm desselben, in immer noch starkem Volumen, geht zum Schönhauser Thore, der andere zum Rosenthaler. Tausende ziehen an uns vorüber, zumeist Männer, jeder mit seinem Blechkesselchen in der Hand, viele von ihnen bleich, hager, leidend; doch auch Frauen darunter, solche, die hier meistens in der Textilindustrie und Confectionsbranche beschäftigt sind, Blumenmacherinnen, manche frische, hübsche Erscheinung unter ihnen, Putzmacherinnen, Schneiderinnen, einige von ihnen ganz modisch gekleidet und alle sauber. An den Straßenecken stehen Kinder, welche ihnen Flieder verkaufen, den Busch für fünf Pfennige; und hinter ihnen her fahren kleine, niedrige Wagen, mit einer Frau darin, die einen braunen, breiten Strohhut trägt, wie die Marktfrauen, und einem Mann voran, in hohen Tönen beständig etwas rufend, was für den Uneingeweihten erst allmälig verständlich wird: „Bücklinge kauft! Bücklinge kauft, kauft, kauft!" Dieser Wagen bringt den kleinen Leuten die Leckerbissen zu ihrem Abendbrot: Radieschen, Rettige, Grünzeug, Heringe, Flundern und vor Allem Bücklinge, die große Delicatesse dieser Gegenden.

Äcker sind nicht mehr in der Ackerstraße, noch Gärten in der Gartenstraße, noch Weinberge am Weinbergsweg. Und dennoch blühten sie einst, reicher, üppiger als irgendwo in Berlin, hier an den südlichen Abhängen des Plateaus, welche die Mittagssonne haben; und hochberühmt war „Wollank's Weinberg". Der Weinberg ist verschwunden; aber die Wollanks sind geblieben, und wie sie lange die große Dynastie dieser Gegend waren, so zählen sie noch immer zu den ältesten, geachtetsten und populärsten Bürgern von Berlin. Als im Juli 1881 „der alte Wollank" zu seinen Vätern versammelt und in dem Erbbegräbniß der Wollanks in der benachbarten Ackerstraße zur Ruhe gebracht wurde, da war der ganze Stadttheil in Bewegung. Jetzt, hinter einer Mauer, welches sie nach drei Straßenseiten, dem Weinbergsweg, der Fehrbelliner und der Veteranenstraße hin umfaßt, und auf einem Grundstücke, welches seit mehr als hundert Jahren den Wollanks gehört (vorher war es der gräflich Sparre'sche, zuletzt der Mollard'sche Weinberg), steht an einer leichten Bodenschwellung die moderne Wollank'sche Villa. Durch das Thor hat man einen Blick auf das vornehme weiße Haus unter den bejahrten Bäumen, welche mitten in dieser aufgeregten Zeit und diesem unruhigen Stadtviertel dem altererbten Besitz Etwas bewahrt zu haben scheinen von der beschaulicheren Stille der Vergangenheit, deren Zeugen sie noch gewesen und deren letzte Reste sie sind.

Aus: Julius Rodenberg: Bilder aus dem Berliner Leben. Berlin 1891 (Bd. 2).

Abgeschrieben von Falko Hennig

Siehe auch www.Falko-Hennig.de

Und welch' ein farbenreiches Bild neuesten Berliner Lebens, wenn man auf den Platz vor dem Rosenthaler Thore hinaustritt – desjenigen Lebens, welches überall in dieser großen Stadt pulsirt, nirgends aber, zu gewissen Stunden des Tages, stärker, intensiver, als hier. Das Rosenthaler Thor um 1865.

Foto: Archiv Falko Hennig

 
 
 
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