Ausgabe 07 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Leben auf der Baustelle

Ein neuer Bildband über Marzahn

Das neue Ziel wäre die fabrikmäßige Herstellung von Wohnhäusern im Großbetrieb auf Vorrat, die nicht mehr an der Baustelle, sondern in Spezialfabriken in montagefähigen Einzelteilen erzeugt werden müssen.

Walter Gropius

Im Erfurter Sutton Verlag ist mit Berlin-Marzahn ein weiterer Band aus der Reihe „Bilder aus der DDR" erschienen. Die beiden Herausgeber Peter Bachstein und Peter Homann erzählen die Geschichte der Entstehung des modernen Marzahn und setzen dabei in erster Linie auf Fotos aus privaten Sammlungen, die sich nicht so sehr durch ihre fotografische Qualität auszeichnen, sondern eher dokumentarischen Charakter haben und streckenweise an Diaabende im Kreis der Familie erinnern. Um dem etwas entgegenzuwirken und zur allgemeinen Erheiterung haben sie Bildunterschriften ersonnen, die im Stile des Organs der SED der Großbaustelle Berlin-Marzahn daherkommen.

Bis in die siebziger Jahre hinein war Marzahn ein kleines Angerdorf in ländlicher Umgebung. Was im ersten Kapitel als „ländliches Flair" bezeichnet wird, sollte man aber keineswegs als Idylle mißverstehen, denn besagtes Flair bestach in erster Linie durch bestialischen Gestank, was man den Bildern glücklicherweise nicht anmerkt. Knapp hundert Jahre lang waren hier die Rieselfelder von Berlin. Die brachten den ansässigen Bauern zwar gute Erträge und einen gewissen Reichtum, der Zugang in „bessere Kreise" wurde ihnen wohl dennoch naserümpfend verwehrt. Erst der Bau des Klärwerkes Nordost in Falkenberg beendete 1968 diese stinkende Ära und schuf damit die Grundvoraussetzung für eine Bebauung der Gegend.

1971 beschloß die SED auf ihrem VIII. Parteitag bis 1990 die Wohnungsfrage als soziales Problem zu lösen. Mehr Zeit bekam sie dafür auch nicht. Im 1973 folgenden offiziellen Beschluß über das „Wohnungsbauprogramm der DDR für die Jahre 1976 bis 1990", wählte man das Gebiet nördlich von Biesdorf als Hauptstandort des Wohnungsbaus in Berlin aus, weil es nur wenige Kilometer von der Innenstadt entfernt, in unmittelbarer Nähe vieler Arbeitsplätze lag und günstig zu erschließen war. In herzerfrischender Bürokratenart war zunächst „Wohnkomplex Biesdorf-Nord" als Name für die neue Siedlung im Gespräch. Erst 1979, mit der Gründung eines neunten Ostberliner Stadtbezirkes, entschied man sich für „Marzahn". Das hatte hauptstädtisches Niveau, weil es nicht auf -dorf endete, die Arbeiterklasse hatte auf dem Dorf schließlich nichts verloren.

Während man in Westberlin die vergleichbaren Siedlungen Gropiusstadt und Märkisches Viertel zunächst ohne den versprochenen U-Bahn-Anschluß baute und man im Märkischen Viertel bis heute darauf wartet, konnten in Marzahn bereits die Bauarbeiter mit der 1976 bis zum Springpfuhl in Betrieb genommenen S-Bahn zur Arbeit fahren. Bevor man die ersten Häuser fertigstellte, verlegte man außerdem die Strom-, Gas- und Wasserleitungen nicht einzeln nacheinander, wie sonst in Berlin üblich, sondern in begehbaren Sammelkanälen. „Diese gut durchdachte Methode konnte später leider nicht mehr angewendet werden, weil das Tempo des Hochbaus zu schnell wurde", so die Herren Bachstein und Homann im Vorwort. „Daher liegen die Versorgungsleitungen in einigen Gegenden Marzahns oberirdisch." Das sieht zwar scheiße aus, geht aber schneller und spart außerdem Kosten für Abenteuerspielplätze.

Um die vielen nötigen Wohnungen bauen zu können, orientierte sich die DDR, wie die meisten anderen europäischen Länder auch, an den Ideen des Neuen Bauens, wie sie in Deutschland bereits in den zwanziger Jahren von der Architektengruppe „Der Ring" um Walter Gropius vertreten wurden. Für die Herstellung montagefähiger Einzelteile errichtete man in Hohenschönhausen und Vogelsdorf zwei aus Helsinki importierte Fabriken. In Finnland dienten diese dazu, Wohnhäuser in Plattenbauweise mit individuell gestalteten Grundrissen herzustellen. Bürgerliche Individualität jedoch war in der DDR nicht so sehr gefragt, deshalb mußte man die Fabriken so umrüsten, daß sich möglichst nur Bauelemente für Häuser der Typen WBS 70 oder QP 71 herstellen ließen.

Das erste Haus konnte im Dezember 1977 in der Marchwitzastraße bezogen werden. Es folgten innerhalb von nur 13 Jahren insgesamt knapp 60000 Wohnungen, weshalb Marzahn mit etwa so vielen Einwohnern wie Potsdam heute die größte Plattenbausiedlung Deutschlands ist. Der Plan, bis 1990 die Wohnungsfrage lösen zu wollen, war also durchaus ernst gemeint. Einer der Schwerpunkte des Bildbandes ist denn auch die Baustelle selbst. Auf manchen Bildern kann man sogar schon erahnen, warum es in vielen der Marzahner Wohnungen ständig zieht: Durch den enormen Zeitdruck verbaute man auch stark beschädigte Platten.

Der rote Faden des Bandes ist das ständige Nebeneinander von Bauen und Wohnen, das bisher auch tatsächlich den Hauptteil der Marzahner Geschichte prägte. Jahrelang stellte man täglich 15 bis 20 Wohnungen fertig, in die umgehend die neuen Marzahner einzogen. Übertrieben gemütlich sieht das Leben in Marzahn auf den Bildern demzufolge auch nicht aus, eher nach Aufbruch und Aufbau. Auch nach 1990, als man mit dem Ende der DDR die sozialistische Mustersiedlung den Westberliner Klassenfeinden in den Rachen schieben mußte, ist Marzahn eine Baustelle geblieben. Trotz der offen zur Schau getragenen Neigung der neuen Obrigkeit, die Plattenbauten wieder abzureißen, ließ man diese stattdessen zu einem gro-ßen Teil bereits wieder sanieren.

Dirk Rudolph

* Peter Bachstein und Peter Homann: Berlin-Marzahn. Sutton Verlag, Erfurt 2004. 17,90 Euro

 
 
 
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