Ausgabe 07 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Eine Frechheit!

Das Volk emanzipiert sich bei den Montagsdemos von den Volksvertretern

Neulich montags in Gera, einer Schrumpfstadt mitten in der kaputtesten, hoffnungslosesten ostdeutschen Provinz: Ein paar Tausend Menschen schieben sich durch die halb vernagelte Fußgängerzone. Sonst ganz stille, sehr ernst wirkende ältere Leute marschieren da und skandieren: „Wir sind das Volk!" Es sind fast keine linksintellektuellen Gymnasiasten da, wie sonst auf den Demonstrationen, keine Punks und keine Bürgerbewegten. Man sieht auch nur wenige altgediente Parteigenossen von der Sorte, die man zum Protestieren einfach abkommandiert wie seinerzeit zur Betriebsfeier. Die meisten Demonstranten scheinen einfach nur Rentner zu sein, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und gänzlich Einkommenslose. Das Gros ist wohl der ständig wachsenden Gruppe der Nichtwähler zugehörig: der Mob, vor denen es den etablierten Parteien graust.

Es sind auch Nazis dabei. In Köthen soll man an diesem Montag sogar einen ans Rednerpult gelassen haben. In Gera marschieren sie nur mit, völlig unbehelligt, denn die Leute wissen nicht, wie man eine ordentliche Demo macht, und daß man in solchen Fällen „Nazis raus!" ruft und die Jungs aus der Menge schubst. Allerdings sind auch nur drei Polizisten da, die bei einer Schlägerei eingreifen könnten. Es wäre ziemlich riskant, nahezu lebensmüde, die Nazis anzugreifen.

Ein alter Metallgewerkschafter, ein abgefallener SPD-Abgeordneter, sogar ein, zwei leibhaftige Sozialhilfeempfänger, die von der Basis sozusagen, rot im Gesicht vor Wut oder Alkohol und nicht nur nachlässig, sondern eindeutig ärmlich gekleidet, stehen auf dem Brunnenrand am Marktplatz und reden und schimpfen ins Megaphon. Und die Leute raunen aufgebracht, wenn von den Vermögensnachweisen, den Hungerlöhnen, Umzügen oder psychologischen Tests die Rede ist, die auf sie zukommen. Sie wollen Schröder weghaben, und es ist ihnen ganz egal, ob danach ein noch Schlimmerer kommt, dann kommt der eben auch weg. Und sie wollen Geld und Arbeit und Zahnersatz und eine Rente, wenn sie alt werden.

Das ist viel, aber früher war es doch auch möglich. Ist die Welt, diese Republik denn ärmer geworden? Nein. Selbst die arme DDR, sagen die Leute, konnte ihren Bürgern diese Dinge geben. Wenn es heute nicht geht, dann nur, weil sich die Arbeiter und arbeitslosen Almosenempfänger international dauernd gegenseitig niederkonkurrieren, statt sich gemeinsam gegen die Zumutungen des „Sozialumbaus" zu wehren. Aber so weit gehen die Diskussionen hier gar nicht. Man will keine Strategien abwägen, genausowenig wie man über Parteipolitik reden will oder über Wirtschaftswissenschaft. Die Leute wollen auch nicht vor „besorgniserregenden Entwicklungen" warnen, die die Demokratie gefährden, noch ihrem „Gefühl für Betroffenheit" bezüglich eines fernen Krieges Ausdruck verleihen. Diese Leute fühlen sich nicht betroffen, sie sind es. Sie demonstrieren in eigener Sache. Dies ist der Pöbel. Ein ziemlich stiller, trauriger Pöbel, eine Bastille wird er nicht erobern. Aber etwas selbstbewußter ist er in den letzten Wochen geworden, und das hat für viel Unruhe gesorgt, auch im fernen Berlin.


Foto: Knut Hildebrandt

In Berlin sind eine Woche später zehnmal so viele Leute gekommen wie in Gera ­ obwohl Berlin vierzigmal so viele Einwohner hat und bestimmt hundertmal so viele Fernsehkameras, die einer Demonstration erst ihren Reiz geben. Hier scheinen die Linken aus besserem Elternhaus ­ die üblichen Träger deutscher Protestkultur ­ die Mehrheit zu bilden. Sie wissen, wie eine Demo geht. Immer wieder werden Nazis rausgejagt; auch die Schüler-Union bekommt Ärger. Es gibt lustige Transparente: „400 Euro für Abgeordnete (alle)" ist zu lesen oder: „Das System wird einem Arsch immer ähnlicher." Mehrere Flugblätter kündigen die Gründung neuer Parteien an. Auf anderen wird ein neuartiges Wirtschaftssystem oder eine Rückkehr zum Geist der bundesdeutschen Verfassung gefordert, wieder andere wollen einen „Kultursozialpaß", mit dem sich auch Arme ein Konzert leisten können. Die Einpeitscher und Redner sind schlechter als in der Provinz. Sie rufen „eins, zwei, drei ­ große Schweinerei" oder etwas in der Art. Auf der Abschlußkundgebung bricht Käthe Reichel fast die Stimme, als sie ihre Ansprache hält. Sie kommt kaum gegen den Lärm an, der immer mehr anwächst. Die Meute ist zornig, denn die Polizei hat die Straße gesperrt. Die Leute wollen durch zur SPD-Zentrale. „Eine Frechheit", zischt die greise Brecht-Schauspielerin neben das Mikrophon und meint die Demonstranten. Sie ist bessere Zuhörer gewohnt, damals bei der Afghanistan-Demo wurde sie für ihre kurzen, scharfen, schönen Sätze umjubelt, und hier grölen ihr die eigenen Mitkämpfer die Rede kaputt und wollen keine schönen Sätze, sondern Krach. Allmählich beginnt die Veranstaltung der Geraer Demonstration zu ähneln.

Daß die Proteste im Osten so viel stärker als im Westen sind, liegt nicht einfach nur an der Arbeitslosenrate. Man hat hier mit dem friedlichen, quasi unorganisierten und vor allem regelmäßigen Demonstrieren gute Erfahrungen gemacht; die Hoffnung, daß alles wieder ganz anders kommen könnte, erscheint also nicht ganz so abwegig wie im Westen, wo man auf der Suche nach einem revolutionären Vorbild wohl bis zum Kieler Matrosenaufstand zurückgehen müßte. Und auch sonst ist der Bezug auf die Proteste vor 15 Jahren gar nicht so dumm. Damals wie heute bekunden diejenigen ihren Unmut, an deren Wünschen, Erwartungen und Bedürfnissen vorbeiregiert wird, weil sie in der Politik nicht vorkommen. Keine der politischen Organisationen hat sie auf die Straße gerufen; auch die PDS schloß sich den Demonstrationen erst an, als sie schon liefen, und das noch nicht mal geschlossen. Diese Demonstranten sind schlecht organisiert, berechenbar und ungefährlich, dabei so aufrichtig empört, daß ihre Forderungen naiv oder ­ in den Worten der Berliner Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner ­ eigentlich „unpolitisch" zu nennen sind. Es stimmt: Den schwierigen Problemen der politischen Klasse bringen diese Demonstranten kein Verständnis entgegen. Sie hätten es gern mal wieder umgekehrt. Und so macht auch die Parole „Wir sind das Volk!" heute wie damals Sinn.

Otto Witte / Roland Abbiat

 
 
 
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