Ausgabe 07 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Paßwort: Datenträger

Flashback. Im September 1994 traf ich am Strand von Cadíz einen Einbeinigen. Der Mann trug eine abgewetzte Jeans, ein staubiges T-Shirt und eine erdfarbene Jacke. Er bezeichnete sich als politisch Verfolgten. Die Kohl-Regierung beabsichtige, ihn umzubringen. Killer vom BND sind hinter ihm her. Selbst im südlichsten Spanien fühlt er sich nicht sicher. Überall kann man ihn aufspüren. Alles wird überwacht, sogar die Kleidung. Unsichtbare Sender sind mit den Fasern verwoben. Er sprach schnell, die Lider seiner Augen zuckten. Deshalb, erklärte er, trage er nur Lumpen aus Altkleiderbeständen. Ich hielt seine Angst für übertrieben.

Punktlandung Gegenwart. August 2004. Die paranoide Wahnvorstellung des Einbeinigen steht kurz vor der Markteinführung. Name: RFID ­ Radio Frequency Identification. Funktionsweise: Identifizierung via Funkwellen. Der Chip, nicht größer als eine Bleistiftspitze, wird den allgegenwärtigen Barcode ablösen. Jeder Chip hat einen weltweit einmaligen Code und kann von Computern identifiziert, verfolgt, mit Informationen versehen werden. Die Handelsriesen Wal-Mart und Metro AG werden ihre Waren ab 2005 mit RFID ausstatten. Das US-Militär markiert bereits Container und Trucks mit RFID. Visa will Kreditkarten damit versehen, die Europäische Zentralbank Geldscheine. Das „Internet of things" ­ die Verknüpfung von Waren und Computern ­ wird kommen und eine Flut neuartiger Informationen generieren. Die Industrie jubelt, Produktionsabläufe und Warenströme lassen sich optimieren, Bestände effektiver kontrollieren, das Verbraucherverhalten noch besser vorhersehen. Spielverderber sind Daten- und Verbraucherschützer. Sie warnen. Das IT-Magazin iX führte den Beweis: Mit billigster Technik und selbstentwickelter Software gelang es, die einzelnen Speicherabschnitte der RFIDs auszulesen und, wenn ungeschützt, auch zu beschreiben.

Kleidung kann heute noch weit mehr als sich und den Träger mittels eines Mikrochips ausweisen. Die Forschungsgruppe Wearable Computing vom Fraunhofer Institut Berlin arbeitet daran. Sie will mikroelektronische Komponenten in Kleidung integrieren. Die Verschmelzung von Computer und Kleidung ist das Ziel. Exemplarisch wurde ein intelligentes Outfit für Fahrradkuriere designt. Die Jacke beherbergt Satellitenortungssystem, Voice Navigator, waschbare Transponder und ein Display, das über eine textile Tastatur bedient wird. In Planung sind kleidsame Systeme zur medizinischen Überwachung von Kranken. Z.B. ein T-Shirt, das Vitalfunktionen überprüft und Diagnoseergebnisse an den Arzt sendet. Das Wohl des Käufers liegt auch den Entwicklern einer Jacke mit dem Namen „No-Contact" am Herzen. Die Jacke ist eine Waffe, sie erledigt Angreifer mit einem Elektro-Schock. Es gibt Socken, die Schweißgeruch absorbieren. Anzüge, die den Träger je nach Wetterlage kühlen oder wärmen. Eine Memory-Weste mit integriertem Diktiergerät für den Fall, daß einem unterwegs etwas Wichtiges einfällt, und Kleidungsstücke mit integriertem Stauwarnsystem. Für alle, denen die multiplen Strahlungen von Handys und Mikrochips nicht mehr geheuer sind, gibt es „Silvertec". „Silvertec" produziert Kleider, die für Funkstrahlen undurchlässig sein sollen.

Flash Forward 2014. Der Mensch ist zum Trägermaterial von Mikrochips verkommen. Was er auch an und bei sich hat – Kleidung, Bücher, Nahrung –, alles sendet und empfängt. Nichts bleibt im Verborgenen. Nichts? Doch! Die Kommunen der Entdigitalisierten. Sie leben außerhalb der Städte und bauen ihre Kartoffeln wieder selber an. Wer zu ihnen möchte, muß sich einer RFID-Entlausung unterziehen. Der dazu benötigte „DataPrivatizer" wird seit 2004 von FoeBuD e.V. (Verein zur Förderung des öffentlichen bewegten und unbewegten Datenverkehrs e.V.) angeboten. Das Gerät lokalisiert RFID-Chips. Unbestätigten Berichten zufolge wurde der handgroße Detektor von einem Einbeinigen entwickelt.

Ole Kretschmann

 
 
 
Ausgabe 07 - 2004 © scheinschlag 2004