Ausgabe 06 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Die Sphinx ist eine Katze

Das Berliner Tierheim als Seismograph einer städtischen Zivilisation

Wer mit dem Gedanken spielt, einem Waisentier ein neues Zuhause zu geben, der begibt sich zum Tierheim in Berlin-Falkenberg. Gibt man in eine Internetsuchmaschine „Tierheim Berlin" ein, erfährt man nicht nur, wie man dort hingelangt, sondern auch, daß der Architekt Dietrich Bangert das Gebäude entworfen hat und daß es mehr als eine „Verwahranstalt" für Tiere sein soll. In Presseartikeln wird von einer „Idealstadt für Mensch und Tier" berichtet. Manche vergleichen die Architektur des Tierheims mit der des Bundeskanzleramts.

Wir fahren mit den Öffentlichen hin. Es ist ganz einfach. Mit der S-Bahn nach Hohenschönhausen und dann mit einem Bus weiter nach Falkenberg. Das Tierheim liegt am Rande des Dörfchens. Es besteht aus zwei weitgestreckten Betonriegeln in Lichtgrau, die eine Art riesigen Innenhof umschließen. Ein weiterer, runder Betonbau, der im Inneren liegt, schmiegt sich in den rechten Winkel. Dazwischen flache Wasserbassins und dürre Bäumchen. Ein Gefühl von Weite, ein wenig auch von Vergeblichkeit übermannt den Besucher, wenn er hier ankommt, um sich etwa einen neuen Hund auszusuchen. Ein paar Menschen sind auf den neuangelegten Wegen unterwegs, alle mit schnellen Schritten, um die großen Entfernungen zu überwinden.

Vor dem Katzenhaus, das in einer der Betonfluchten untergebracht ist, kommt uns eine Frau im Anorak entgegen. „Is ja schrecklich hier, wa?" bemerkt sie. An ihren Stiefeln klebt Matsch in dicken Klumpen. Sie ist offenbar, wie wir auch, über den Modderweg durch die Felder gekommen und hat das Gelände von der falschen Seite betreten ­ durch einen Bauzaun, der einen Spalt weit offen steht. Nun sucht sie so etwas wie ein Hauptgebäude.

Gemeinsam finden wir den Verwaltungstrakt. Die Büros sind hier durch Glas und weiße Fertigbauteile voneinander abgetrennt. Eines davon gehört der Pressesprecherin Carola Ruff. Sie ist eine Frau mittleren Alters mit dunklem, gewelltem Haar. Auf ihrem Schreibtisch steht eine Schale mit Plätzchen. Zwei Hündchen tummeln sich unter dem Tisch. Problemhunde, derer sich das Personal angenommen hat, wie die Pressesprecherin erläutert. Meist wurden sie von ihren Vorbesitzern falsch erzogen, sagt sie. Wie auch einer der beiden Hunde, Frau Ruffs kleiner schwarzer Pudel, der bei seinem früheren Herrchen nicht stubenrein wurde. Das Pudelchen bettelt um Kekse, aber es bekommt keinen. Frau Ruff ist streng. Fast mit jedem Hund läßt sich umgehen, weiß Frau Ruff. Man müsse nur wissen, worauf man sich einläßt. Und man dürfe nichts erwarten, vom Tier. Gerade die Tiere, die ins Tierheim kommen, bedürften besonderer Aufmerksamkeit, da sie schon eine Enttäuschung hinter sich hätten. Frau Ruff spricht mit klarer, sicherer Stimme. Ihr Pudel, der inzwischen seine Grenzen kennt und sehr gepflegt wirkt, springt dankbar an ihr hoch.

In einer Mülltonne will derjenige, der eines schönen Tages mit dem Wuscheltier vor der Tür stand, den Rassehund gefunden haben. Frau Ruff hält die Geschichte für erfunden. Kaum einer gibt gerne zu, an der Tierpflege gescheitert zu sein ­ wahrscheinlich war der Überbringer der Besitzer selbst. Unwillkürlich habe ich einen liederlichen Menschen vor Augen, einen Egoisten, in dessen Obhut man das Pudelchen nicht gerne wissen möchte. Ein schlechter Mensch.

„Selbstmord? Ein Tier?"

Nicht weit vom Verwaltungstrakt entfernt liegt die Tiersammelstelle. Auch hier sitzt ein kleiner Dackel auf dem Boden, der wahrscheinlich zum Haus gehört. Auf einem langen Tisch klingeln ständig Telefone, eine resolute Frau mit einer Schürze berät sich gerade mit einer anderen. „Damit nicht wieder wer versucht, sich umzubringen," höre ich aus dem Gespräch heraus. „Selbstmord? Ein Tier?" frage ich erschüttert. „Natürlich nicht", versetzt die Frau unwirsch. Sie klärt die Geschichte auf: Der Hund einer depressiven Dame war im Tierheim aufgenommen worden, ein Tierschützer hatte ihn gerettet und abgegeben. Er war in schlechtem Zustand, traurig irgendwie, die ganze Tierpsyche nicht im Lot. Schließlich war es der Dame gelungen, herauszufinden, wo ihr kleiner Freund sich befand. Sie kam und wollte ihn wieder zu sich nehmen. Doch die Tierpfleger lehnten ab. Die Dame erschien ihnen als „zu labil", erklärt die Pflegerin. „Dann ist sie ab in den Teich", schließt sie scheinbar ungerührt und weist mit dem Daumen hinter sich. Hat sich die Ärmste nun wirklich das Leben genommen? Und welchen Teich meint die Pflegerin? Sollte sie das flache Wasserbecken im Hof des Tierheims meinen, dürfte es die Selbstmörderin nicht leicht gehabt haben.

Über die Wasserbassins im Hof führen mehrere Stege ohne Geländer. Dahinter liegen die Hundehäuser: das „Rexhaus", das „Benjihaus" und das „Lassiehaus". Der Architekt hat sie rund angelegt. Statt langer Käfigreihen, „in denen die Hunde verunsichert die Aufmerksamkeit der Besucher herbeibellen würden und sich psychisch völlig verausgabten", sind die Hundezwinger wie Tortenstücke angeordnet. Der Mensch steht in der Mitte. Die Hundeboxen umgeben ihn wie ein Rondell. Egal, wie herum man sich wendet, immer hat man das Gefühl, daß einer von hinten einem gleich ins Genick springen wird. So schwanke ich zwischen Sympathie für „Zitrönchen" oder „Peppermint Patty", denen ich in ihre treuen Augen schauen kann, und Angst vor „Rex", der hinter mir bellt, ohne daß ich ihn im Blick behalten kann. Nach kurzer Zeit steht mir Angstschweiß auf der Stirn. Ich muß die Hundehäuser verlassen. Bald soll es entspannende Musik in den Hundehäusern geben, erfahre ich noch, bevor ich gehe. Dann werden die Tiere noch ausgeglichener sein.

Die Kätzchen sind guter Dinge

Wesentlich ruhiger ist es in den Katzenhäusern „Garfield" und „Samtpfötchen". Hier logieren „Smokie" und „Molli" in gläsernen, lichtdurchfluteten Separées. Die meisten Katzen sind träge, liegen in ihren Körbchen und interessieren sich nicht für die Menschen, die gegen die Glasscheiben tapsen und den Tieren Zärtlichkeiten zuflüstern. Hinter einer Scheibe spielen zwei winzige Kätzchen. Gleich mehrere Gäste knien vor ihnen. Eine Tierpflegerin bringt eine Konserve mit Futter. Die Kätzchen haben den braunen Klumpen schon halb aufgefressen, noch bevor die Pflegerin dazu kommt, ihn mit der Gabel zu zerkleinern. Die Gesichter der Besucher leuchten vor Entzücken. „Die Kätzchen sind gestern erst gekommen", sagt uns die Pflegerin. Sie sind schon stubenrein, sind guter Dinge, haben prächtig gefressen. Gute Kätzchen. Ein Bauarbeiter hat sie gebracht, der sie, als es kalt wurde, von draußen in seinen Bauwagen genommen hat. Daß die Kätzchen so wohl auf sind, ist dem Bauarbeiter zu verdanken. Draußen wären sie verendet. Ein guter Bauarbeiter.

„Kann ich die beiden Kätzchen denn mal auf Probe mitnehmen?" frage ich und merke sofort, daß ich einen Fehler begangen habe. Die Pflegerin wirft mir einen tadelnden Blick zu. Es rettet mich nicht, daß ich sofort einlenke. „Natürlich, ganz klar, die Belastung eines nochmaligen Ortswechsels ist den Kätzchen nicht zuzumuten, das liegt ja auf der Hand. Ich habe ja nur sicherstellen wollen, daß die Umgebung, die ich ihnen bieten würde, den Katzen wirklich gerecht sei, es ist ja nichts, was man leichtfertig tut, so ein Schritt, Verantwortung zu übernehmen, für ein Tier. Ich lebe an einer Hauptstraße, die Kätzchen müßten in der Wohnung bleiben." Die Kätzchen seien noch ganz jung und könnten problemlos an die Wohnung gewöhnt werden, pariert die Pflegerin. „Aber man weiß ja nicht, ob sie nicht an die Tapeten gehen, zum Beispiel..." Vorbei. Die Pflegerin hält mich nicht für geeignet für die Kätzchen, das merke ich. Die eigenen Tapeten. Die eigenen Belange. Niemand spricht das aus, doch von den weiteren Gesprächen darüber, was man mit Katzen anstellen darf und was nicht, werde ich von nun an ausgeschlossen.

Doch die Ereignisse nehmen eine unerwartete Wendung. An jedem Glaszwinger gibt ein Schild Auskunft über die persönlichen Daten der Katze: Alter, Gewohnheiten, Anlaß der Einlieferung ins Tierheim. Bei auffällig vielen Katzen ist „Wohnungsauflösung" als Grund genannt. „Was mag das heißen?" rätselt laut eine ältere Dame. Glücklicherweise ist eine Angestellte des Hauses in der Nähe, die sich bitten läßt, die Geschichte aufzuklären. Umringt vom gespannten Publikum berichtet sie nach einer Kunstpause: „Vier-und-sechzig Katzen! In einer Zweizimmerwohnung!" Ein Nachbar meldete den Fall, die Katzen wurden befreit. „Das darf nicht wahr sein! Wer macht denn so was?" Der Herr neben mir schüttelt sich. Nun sitzen wir wieder in einem Boot, und der schlechte Mensch ist
ein Unbekannter. Vierundsechzig Kätzchen, die armen Tiere, alle nicht kastriert, unterernährt und apathisch, manche werden nie mehr Vertrauen fassen können. Wir würden so etwas niemals tun.

Tina Veihelmann

 
 
 
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