Ausgabe 06 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Anders als alle anderen Kunstvereine

Ein Gespräch mit Leonie Baumann, der Leiterin der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst

Seit die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK) 1969 mit einer John Heartfield-Ausstellung eröffnet wurde, steht diese Institution in der Kreuzberger Oranienstraße für eine Kunst, die sich eingreifend mit politischen und gesellschaftlichen Fragestellungen auseinandersetzt, was sich auch in der basisdemokratischen Organisation des Kunstvereins spiegelt. Was bereits als veraltet galt, scheint heute aktueller denn je.

In der Kunst findet immer mehr Politik statt. Selbst in repräsentativen Großausstellungen wie die Documenta werden zunehmend politische Diskussionen getragen. Das hängt wohl auch damit zusammen, daß diese Diskussionen an anderen Orten immer weniger stattfinden und in den Räumen der Kunst sozusagen Asyl suchen.

Natürlich nicht in allen Ausstellungsräumen, sondern nur in bestimmten! Die Documenta von Catherine David, wo diese Verflechtung von Politik, Kunst und Initiativen begonnen hat, war ja sehr umstritten. Daß die nächste Documenta von Enwezor da weitergemacht hat, denke ich, liegt auch an Entwicklungen in der Kunstszene selber. Viele Künstler mischen sich tatsächlich in politische Auseinandersetzungen ein und nutzen dann natürlich diese großen Ausstellungen als willkommene Plattform. Man kann ja heute nicht mehr so tun, als ob das alles schön brav voneinander getrennt werden könnte. So haben wir uns als NGBK ja nie verstanden.

Die NGBK könnte sich ja nun in dem bestätigt sehen, was sie schon viel länger tut als andere.

Die NGBK hatte auf jeden Fall eine Vorreiterrolle. Ich denke, daß es 1969, als die NGBK gegründet wurde, schon sehr ungewöhnlich war, daß eine junge Kunstinstitution sich einmischen wollte in Politik und gesellschaftliche Prozesse. Schon eine der ersten Ausstellungen hieß dann folgerichtig Funktionen der Bildenden Kunst in unserer Gesellschaft und entwickelte klare Vorstellungen, wie Ideologie in unserer Gesellschaft funktioniert, welche Rolle das Kapital spielt und was die Funktion von Kunst sein könnte. All diese Debatten sind mit Freude und Energie geführt worden ­ wenn auch nicht unbedingt mit positiver Resonanz. Gerade die Ausstellung Funktionen der Bildenden Kunst 1971 ist in der Presse verrissen worden. Die Medien fanden es überhaupt nicht okay, daß sich ein Kunstverein anmaßt, eine politische Diskussion zu führen, statt Kunst auszustellen.

Man hat die NGBK ja damals wahrscheinlich gegründet, weil man ein Defizit gesehen hat. Wie stellt sich die Position dieses Kunstvereins heute dar?

Ich glaube, daß die NGBK aufgrund ihrer Struktur immer noch eine Ausnahmeinstitution ist, in gewisser Weise auch immer noch eine Vorreiterposition hat, wobei natürlich auch andere Institutionen ähnliche Thematiken mit künstlerischen Strategien bearbeiten. Aber die NGBK arbeitet mit ihrer basisdemokratischen Struktur immer noch anders als alle anderen Institutionen. Die von den Gründermüttern und -vätern bestimmte Struktur sieht vor, daß die Mitglieder des Vereins selbst Projekte einreichen können, wenn sie sich zu Arbeitsgruppen zusammentun, und diese Projekte den anderen Mitgliedern vorschlagen. Das wird in komplizierten Diskussionsprozessen mit allen Beteiligten besprochen und diskutiert. Und all diese Verfahrensweisen und Prozesse bewirken, daß ganz viele Menschen an dieser Programmgestaltung beteiligt sind, lange bevor sie spruchreif und veröffentlicht wird. Der Verein hat 750 Mitglieder, und an der aktuellen Arbeit sind immer mindestens 70 bis 80 Menschen beteiligt. Bei uns entwickelt eine große Menge von aktiven Mitgliedern Ideen, und wir unterstützen sie dabei. Wir haben gerade etwa 14 Arbeitsgruppen, die von den Mitgliedern eingesetzt sind. Im Ergebnis sind wir, denke ich mal, der einzige Kunstverein in der Bundesrepublik, der keine Nachwuchsprobleme hat. Und alle diese Leute, die die Politik des Kunstvereins mitentscheiden, sind ja gleichzeitig Multiplikatoren ­ Menschen, die in allen mögliche Ausstellungen gehen, die Kontakte zu Künstlern haben und in Initiativen oder an politischen Diskussionen beteiligt sind. Das ist, denke ich, auch am Programm ablesbar.

Waren diese Strukturen auch schon mal umstritten oder war es immer Konsens, daß man so arbeiten will. Es gibt ja viele Projekte, die ihre basisdemokratischen Strukturen quasi als Kinderkrankheiten hinter sich gelassen haben.

Am meisten in der Diskussion gestanden hat die Struktur in den achtziger Jahren, als es ganz hip war, Kurator oder Kuratorin zu sein. Damals wurde es aufgrund der Konkurrenz zunehmend notwendig, sich als Individuum zu profilieren. Als sich die Kuratorentätigkeit mehr und mehr als Beruf herauskristallisierte, wurde unsere Struktur stark hinterfragt. Aber letztendlich, nach langen Diskussionen, gab es dann immer wieder den Konsens, dabei zu bleiben. Es zeigt sich ja auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, daß es nicht mehr so sehr darauf ankommt, daß ein genialisch veranlagtes Individuum eine gute Idee gebiert, sondern daß man eher aus dem Diskurs und aus dem gemeinsamen Nachdenken heraus Projekte entwickelt. Die letzte Documenta oder die Berlin-Biennale sind ja auch Beispiele dafür. Der Einzelne, der völlig alleine seine Künstler zusammensucht und ausstellt, spielt nicht mehr diese Rolle wie noch vor fünf oder zehn Jahren. Von daher sind wir aktueller denn je, und im Moment ist diese Struktur auch überhaupt nicht in der Diskussion.

Welche Projekte und Schwerpunkte sind für die nächste Zukunft geplant?

Im Oktober eröffnen wir eine Ausstellung mit dem Titel legal/illegal ­ ein wunderbares Beispiel für ein Projekt, das woanders wohl kaum stattfinden könnte. Es geht um Künstlerinnen und Künstler, die auf diesem Grat zwischen Kriminalität und Kunst agiert haben, die als Kriminelle abgestempelt worden wären, wenn sie das als „normale Personen" gemacht hätten, weil ihre Aktionen dann einfach Diebstahl oder Entführung gewesen wären. Im Winter wird es mit -tainment/-haltungen eine größere Ausstellung zur inflationären Verwendung von „tainment" geben, angefangen von entertainment, infotainment, militainment ­ zu der Frage, wie Unterhaltungs-, Beschäftigungs- und Ablenkungsstrategien heute funktionieren. Und dann sind wir schon im nächsten Jahr, in dem es viel um Grenzen gehen wird, um Grenzbewegungen, Grenzverläufe, darum, wie Grenzveränderungen Menschen in ihrem alltäglichen Leben beeinflussen. Wir haben dazwischen noch mehrere Ausstellungen des „RealismusStudios", das auch für die tainment-Ausstellung zuständig sein wird. Das ist eine Arbeitsgruppe, die es schon seit Anfang der siebziger Jahre gibt und die damals die Berliner Realisten gezeigt hat, weil die in den Galerien und Kunstinstitutionen nicht präsentiert wurden. Diese Gruppe hat sich natürlich personell verändert seither, will aber immer noch so genannt werden. Sie stellen jetzt zwar keine Realisten mehr aus, aber immer noch Künstler, die sich um unseren Alltag und unsere Lebenswelt kümmern.

In der NGBK werden politische Inhalte auf die unterschiedlichste Art und Weise verhandelt. Wie funktioniert so ein Kunstverein als Schnittstelle zur Öffentlichkeit? Wie kann es gelingen, daß diese Inhalte wieder zurückfließen in gesellschaftliche Diskussionen außerhalb der Kunstwelt?

Die NGBK ist eine Institution, die ein unglaubliches Netzwerk hat aufgrund der vielfältigen Kooperationen. Wenn sie etwa an das Projekt von Renata Stich und Frieder Schnock zum Thema Einladung am U-Bhf. Alexanderplatz denken: Dort wurden alle autonomen Selbsthilfegruppen in der Stadt unter bestimmten Begriffen mit Telefonnummern aufgelistet. So konnten viele zum ersten Mal feststellen, daß sie mit ihrem Leiden nicht allein sind. Alkoholiker zu sein ist ja vielleicht noch ein relativ bekanntes Problem, aber Inkontinenz oder Magersucht sind Probleme, die völlig tabuisiert werden. Im nächsten Jahr werden wir die Ausstellung 1-0-1 realisieren, wo es um zweigeschlechtliche Menschen geht ­ ein Thema, das wirklich völlig tabuisiert wird. Diese Ausstellung wird Kunst, aber auch Informationsangebote beinhalten. Und die Ausstellung Africa Apart hat jetzt dazu geführt, daß die Bundeszentrale für politische Bildung eine längerfristige Aktion zum Thema AIDS in Afrika startet. Das zeigt, daß wir Öffentlichkeit schaffen können und sich Netzwerke bilden, wenn wir hier ein Thema anstoßen.

Die erste Ausstellung 1969 galt John Heartfield und somit einer Kunst, die eine ganz direkte politische Wirkung anstrebt. Welche Erfahrungen hat man seither in der NGBK gemacht, wie unterscheidet sich politische Kunst 1969 und 2004?

Ich glaube, daß es heute schwieriger geworden ist, vereinheitlichende politische Strategien zu entwickeln. Die Neue Gesellschaft für Bildende Kunst ist ja so genannt worden, weil es die programmatische Wunschvorstellung war, mit bildender Kunst eine neue Gesellschaft zu entwickeln. Das war damals vielleicht mit einigen allzu plakativen Vorstellungen verbunden. Ich denke, daß das Weltgefüge heute viel komplizierter ist. Einen politischen Konsens zu finden, gelingt vielleicht noch bei bestimmten Themenstellungen. Wenn es aber darum geht, sich einer politischen Partei anzuschließen oder gewerkschaftlich aktiv zu werden, wird es schon sehr schwierig. Ich glaube, daß eine Ausstellung wie Funktionen der Bildenden Kunst heute so nicht mehr aussagekräftig wäre. Natürlich geht es auch heute um Strategien und Grundsätze, um das Verdeutlichen von Strukturen, aber letztendlich versuchen Künstler doch eher ins Detail zu gehen, auf Punkte aufmerksam zu machen, an denen man auch als Individuum ansetzen kann, und haben nicht mehr so sehr den Anspruch, die ganze Welt zu verändern.

In der Ausstellung Tätig Sein wurden vor kurzem Zusammenhänge zwischen Kunst und Arbeitswelt, Kreativität und (Selbst)Ausbeutung behandelt. Und Berlin spielt da möglicherweise eine Vorreiterrolle: Künstler kommen in großer Zahl und ohne viel Geld in die Stadt, und die Stadt tut nichts für sie, im Gegenteil, sie schafft das Atelierförderungsprogramm ab und dergleichen mehr. Ist das die Zukunft, wie Kunst sich behaupten wird müssen oder eine Sondersituation in einer bankrotten Stadt?

Das hängt sehr von der Sichtweise ab. Künstler aus New York oder London finden die Verhältnisse in Berlin geradezu paradiesisch, weil es in ihren Städten fast unmöglich geworden ist, ohne festes Einkommen kreativ sein Leben zu fristen. In Berlin ist es noch möglich, mit relativ wenig Geld klarzukommen, weil die Mieten immer noch nicht so hoch sind wie in anderen Metropolen. Wenn man das aber aus Berlin heraus betrachtet, finde ich es schon dramatisch, daß dieser Stadt das einzige „Kapital", nämlich die Kunst und Kultur ­ wirtschaftlich und industriell ist ja nicht viel und wird auch nichts kommen ­ so wenig wert ist. Wenn dann der Bankenskandal unter den Teppich gekehrt wird und der Kultur gleichzeitig gesagt wird, daß sie mit noch weniger Geld auskommen muß, dann ist das politisch ein völliger Irrwitz.

Interview: Florian Neuner

 
 
 
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