Ausgabe 06 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Vier Hühner in Dietzenbach ­ Künstler als Zukunftsforscher

Auf den Brachen des Kapitalismus schießt manches ins Kraut

Ein Grüppchen Frauen und Männer hat sich draußen auf dem Bürgersteig niedergelassen, aus dem Laden wird frisch gebackener Kuchen und duftender Kaffee gereicht, und falls ein Kunde erscheint, kann die Lokalität schnell die Funktion eines Buchladens annehmen. Im Moment wird auf dem sonnigen Trottoir ein Projekt besprochen. Die transformierte Fleischerei ist jetzt eine Werkstatt. Es geht um ein neues Konzept von Radio – um öffentliches Hören. Noch steht die Finanzierung nicht, doch wenn das Radio erst sendet, wird es leichter sein, Geld zu beschaffen. Oder auch nicht. Der Laden ist ein Kunstprojekt. Er könnte auch ein Treffpunkt prekär beschäftigter Architekten oder glücklicherweise arbeitsloser Akademiker sein, die ihre in den neuen Schrumpfungslandschaften wachsende Muse mit allerlei nachdenklichen Tätigkeiten verbinden. Und weil sich das als meßbare Arbeitsleistung nur bedingt verkaufen läßt, wird es wohl Kunst sein, was diese Leute da tun.

Selten waren die Übergänge zwischen Ökonomie und Kultur so fließend. Jetzt, wo das Zeitalter der lohnabhängigen Arbeit zu Ende geht, ist an allem Überfluß ­ nur nicht an Ideen für das Leben danach. Eine Zukunft ungeahnter Möglichkeiten tut sich auf. Die meisten von uns sind ungefragt schon mittendrin. „Zur Zeit wird unser Land umgebaut! Das alte System hat ausgedient, und wir machen uns auf in eine neue Welt. Aber wie wird sie aussehen?" fragt die Designergruppe anschlaege.de, die unter dem spöttischen Titel „Kraut" durch 20 deutsche Städte tourt. Hier wird eine Zeitung gedruckt, die ein Medium derer sein will, die sich in den wirklichkeitsverdrängenden Massenmedien des Landes immer seltener wiederfinden. Im Widerstand gegen die manipulierten Diskurse entstehen durch diese experimentellen Projekte punktuelle Ersatzöffentlichkeiten, Relaisstationen für nützliches Wissen und mobile Aufklärungseinheiten.

Mit der Frage „Wie gestalten Sie Ihre Gesellschaft?" ruft die Künstlergruppe finger e.V. nun bereits zum zweiten Wettbewerb der „evolutionären Zellen" auf. Was da seit einiger Zeit zwischen Halle an der Saale und Hoyerswerda budenzauberartig ins Kraut schießt, ist eine neue Bewegung, die Beuys' Wort von der Kunst als „sozialer Plastik" ernst nimmt und dem L'art pour l'art fröhlich Adieu sagt. Es geht wieder um was in der Kunst.

Wie in Zeiten der historisch gewordenen Avantgarde verlassen Künstler immer öfter ihre ohnehin gefährdeten institutionellen Nischen, um an der frischen Luft Wirklichkeit aufzusaugen. Wie schon in den zehner und zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit seinen umwälzenden technischen Innovationen, treffen sie im entsicherten und aus allen Fugen gefallenen Alltag auf vielfältige Gestaltungsaufgaben ohne etablierte Auftraggeberschaft. Sie finden vom schlagartigen Rückzug der Industrie radikal veränderte sozial-räumliche Zustände und produktive Herausforderungen vor, die die etablierten Bilderwelten, Sichtweisen und Praktiken der Kunst bedrängen. Nolens volens bewirkt die Begegnung mit der veränderten Ökonomie auch diesmal einen Erdrutsch im künstlerischen Feld. Auf den Abriß der Fabriken folgt die Schließung der Theater, Buchhandlungen und sogar der Schulen. Die ihrer bevorstehenden Abschaffung gewissen Kunstproduzenten wandeln sich zu kulturellen Suchtrupps einer Entwicklung, die primär wirtschaftliche Koordinaten hat. Das hat man schon einmal Avantgarde genannt. Diesmal kann es nicht allein darum gehen, die menschlichen Sinne den technisch induzierten Möglichkeiten anzupassen oder der zunehmenden Automation listig zu entziehen, das Serienprodukt für den Volksbedarf zu kreieren oder die Städte durchlässiger für immer neue Kapitalströme zu machen wie zu Zeiten der klassischen Moderne. Heute gibt es die ungeahnte Chance, die millionenfach freigesetzte menschliche Arbeitskraft in gleichermaßen aus der kapitalen Verwertung gefallenen Räumen zu genießerisch sinnvollen Daseinsformen zu führen. Die Gewinne allerdings liegen definitiv nicht im ökonomischen Feld.

Wofür einmal das Wort Bauhaus, Produktionskunst oder Funktionalismus stand, nämlich die zielführende Verwandlung der Kunstproduktion in Lebenspraxis – dafür stehen heute Begriffe wie UmBauhaus, Superumbau, Raumlabor, Urban Catalysts. Oder die Praktiken der Gruppe Spacewalk: „Ehe wir in Wolfsburg anfingen, haben wir erst einmal ,Zukunftsforscher' in die Satellitenstadt geschickt. Sie wissen doch, wie die so aussehen. Das sind die Leute mit den typischen blauen Hüten und investigativen Brillen. Und die Zukunftsforscher kamen dann mit den Ideen der Leute zurück." Zum Netzwerk von Spacewalk gehören Schauspieler, bildende Künstler und alle Sorten technischer Experten, die man notgedrungen kennenlernt, wenn man stillgelegte Atomreaktoren oder verfallende Textilarbeiterstädte kulturell reanimieren will. Die Gruppe interveniert seit 1992 mit einem methodisch klaren Programm in problematisch gewordenen Räumen. Kunst ist hier nur Vehikel auf dem Weg zu besseren oder selbstbestimmteren Lebensbedingungen vor Ort. Natürlich fordern jene Projekte Lokalpolitiker heraus, die Machteinbußen fürchten. Neulich konnte man auf hauptstädtischer Leinwand einen nach Luft ringenden Stadtplaner sehen: „Ja, lesen die im Rathaus denn gar keine Zeitung? Nichts gehört von Stadtumbau, demographischem Wandel und Schrumpfung? Da bieten wir denen eine hundertprozentige Beteiligung der Wohnbevölkerung an, und die träumen weiter von Investoren ..."

Zwei Filmschnitte weiter erlebte man die Verwandlung eines vermeintlichen Kunstwerkes. Was eben noch wie eine plastische Intervention in eine städtische Freifläche aussah – wie in unkrautdurchschossenen Boden gepiekte Holzpflöcke – erwies sich als veritable Landnahme. Ganze Haufen eifrig bewegter Satellitenstädter machten umgehend von der Einladung Gebrauch, auf einer wegen Fluglärm seit Jahren unverkäuflichen Fläche buchstäblich ihre Claims abzustecken und sich Herzenswünsche zu erfüllen. „Wir wollten jeder so gerne ein Huhn und haben uns daher einen Stall gebaut", erklären vier Kinder leuchtenden Auges in die Kamera. Der Bürgermeister, der die agrargesellschaftliche Verwandlung seiner Gewerbeimmobilie nicht mochte, wurde nach einer fulminanten Ansprache der Kinder im Ratssaal überstimmt. Seither halten vier Hühner in Dietzenbach bei Frankfurt am Main umringt von Wohntürmen ein kleines Zukunftsfenster offen. Demokratie macht Spaß. Und jeder ist ein Künstler.

Simone Hain

 
 
 
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