Ausgabe 05 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Ein regnerischer heißer Mai in Süditalien

Die Revolte von Melfi ­ eine neue Runde im Arbeitskampf


Foto: Archiv Wildcat

In Melfi (Basilikata, Süditalien) fand kürzlich der erste größere Kampf von italienischen Industriearbeitern seit zehn Jahren statt, der nicht lediglich eine Antwort auf Entlassungen oder den allgemeinen Sozialabbau war, sondern konkrete Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und Lohnerhöhungen zum Ziel hatte. Sata, das FIAT-Werk in Melfi, war bei seiner Einweihung im Jahre 1994 als postfordistische Modellfabrik „auf der grünen Wiese" präsentiert worden. Bevor überhaupt Arbeiter eingestellt wurden, war bereits ein Tarifvertrag abgeschlossen, von einer Gewerkschaft, die sozialpartnerschaftlich zu nennen eine Beschönigung wäre. Massive staatliche Subventionen belohnten FIAT dafür, Arbeitsplätze in die Billiglohnregion zu bringen; die „toyotistische" Arbeitsorganisation tat ihr Übriges; rund die Hälfte der Beschäftigten arbeitet in Zulieferbetrieben in unmittelbarer Nachbarschaft. Melfi sollte Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen in den anderen FIAT-Werken in Italien ausüben – tatsächlich hatte man aber schon vor der „Melfisierung" FIATs die einzelnen Standorte systematisch gegeneinander ausgespielt.

Melfi startete von Anfang an mit einer sehr hohen Fluktuation. Die Disziplin wurde mit drakonischen Strafen wie Suspendierungen und Lohnabzügen durchgesetzt. Die Arbeiter (darunter auch zehn Prozent Frauen, eine absolute Neuheit im FIAT-Konzern) verdienten 15 bis 20 Prozent weniger als in anderen FIAT-Werken und hatten deutlich härtere Schichten. Um das Werk sechs Mal 24 Stunden am Laufen zu halten, bekamen sie zwei Wochen hintereinander Nachtschichten zugeteilt. All das machte sich in einem Streik Luft, den die Arbeiter bei Sata und in den Zulieferbetrieben am 19. April ausriefen. Unterstützt wurde dieser Protest von der den Kommunisten nahestehenden Metallgewerkschaft FIOM, aber auch von der unabhängigen Gewerkschaft Slai Cobas. Die Mehrheitsgewerkschaften UILM, FIM und FISMIC aber waren gegen den Streik.

Nach zehn Tagen Arbeitsniederlegung hatte FIAT Produktionseinbußen von 16300 Fahrzeugen – allein in Melfi werden am Tag bis zu 1200 FIAT Punto und Lancia Y montiert und Bleche für andere FIAT-Werke hergestellt – und 95 Prozent der italienischen Autoproduktion stand still. Am 26. April griff die Polizei sehr hart die Streikposten an. Es gab mehrere Schwerverletzte. Es war seit etlichen Jahren die erste direkte Auseinandersetzung zwischen Arbeitern und Polizei in Italien. Die FIOM rief daraufhin zu einem vierstündigen Generalstreik am 28. April auf, der auch weitgehend befolgt wurde. Am nächsten Tag reagierte die FIOM auf den Druck der Unternehmer und der Polizei und sagte zu, die Streikposten in Melfi abzuziehen und sie in eine ständige Versammlung der streikenden Arbeiter umzuwandeln. Es handelte sich dabei aber lediglich um ein formales Zugeständnis an FIM, UILM und FISMIC, denn die Arbeiter versperrten den Streikbrecher-Bussen weiterhin den Weg. Obwohl sich sogar einige Gewerkschaften an der Organisation der Streikbrecher beteiligt hatten, blieben die Busse ohnehin halb leer.

Sehr schnell hatten die Arbeiter in Melfi zwei präzise Ziele auf die Tagesordnung gesetzt: Die Angleichung der Löhne an die der anderen Arbeiter im Konzern und die Überwindung der unerträglichen Arbeitsorganisation. Sie fochten ihren dreiwöchigen Kampf aus, ohne auf die Unterstützung der unternehmerfreundlichen Betriebsräte zu setzen. Damit haben sie nicht nur die Gewerkschaft in Frage gestellt, sondern auch die Zerbrechlichkeit der Just-in-Time-Arbeitsorganisation für sich ausgenutzt. Die „integrierte Fabrik" ist ­ ohne Puffer ­ darauf angewiesen, daß der Produktionszyklus, in dem verschiedene Werke und Eigentümer zusammenwirken, pünktlich und geordnet funktioniert. Die Arbeiter haben den Prozeß der Zerstörung der alten fordistischen Fabrik, der einst dazu diente, unter anderem ihre Verhandlungsmacht zu schwächen, gegen den Unternehmer gewendet und damit eine neue Runde von Arbeitskämpfen eingeleitet.

Als in Melfi nach 20 Tagen Kampf und etwa 35000 nicht produzierten Autos deutlich wurde, daß die Arbeiter nicht von ihren Forderungen abrücken würden, mußte schließlich ein institutioneller Rahmen für die Verhandlungen mit dem Konzern gefunden werden. So traten dann wieder die Gewerkschaften auf den Plan, darunter auch die, die zuvor gegen den Streik waren. Am 9. Mai wurde von einer provisorisch wiedervereinten Gewerkschaftsfront eine Einigung unterschrieben. Der Abschluß der Verhandlungen läßt sich ungefähr wie folgt zusammenfassen:

1. Ab Juli wird der sogenannte Doppelklopper, d.h. zwei Wochen Nachtschicht in Folge, abgeschafft. Es wird eine 6-Tage-Woche und eine 4-Tage-Woche mit zwei aufeinanderfolgenden Ruhetagen geben. Gleichzeitig wird die Arbeitszeit von siebeneinviertel Stunden auf siebeneinhalb Stunden verlängert. Die 15 Minuten mehr ergeben zusätzliche sieben Tage Urlaub. Die Nachtschichtzulage wird bis Juli 2006 von 45 auf die in den anderen Werken geltenden 60,5 Prozent erhöht. Die Arbeiter müssen allerdings weiterhin am Samstag und Sonntag arbeiten und haben nur 30 Minuten Mittagspause.

2. Die Arbeiter in Melfi werden erst nach und nach lohnmäßig mit den anderen FIAT-Beschäftigten gleichgestellt (zur Hälfte ab Juli 2004, ein weiteres Viertel im Juli 2005 und ab Juli 2006 Gleichstand). In diesem Punkt haben sie also ihre Forderung nicht durchsetzen können.

3. Ein weiterer Auslöser des Streiks war das harte Fabrikregime; es hatte in zehn Jahren 7000 Disziplinarmaßnahmen ­ darunter Suspendierungen und Lohnabzüge ­ gegeben. Nun soll eine „Versöhnungs- und Vorsorgekommission" eingerichtet werden, um die in den letzten zwölf Monaten verhängten Sanktionen zu untersuchen. Dieses Ergebnis könnte sich aber noch als Problem erweisen. Nach den harten Auseinandersetzungen ist es heikel, die Untersuchung der Disziplinarstrafen ausgerechnet einer gemischten Kommission aus Unternehmern und Gewerkschaften zu überlassen, die zum großen Teil gegen den Kampf waren.

Dem Streik bei FIAT in Melfi gingen Mobilisierungen gegen Atommülldeponien voraus, bei denen sich im letzten Sommer große Menschenmassen an Straßenblockaden beteiligten und ganz Lukanien (alter Name für die Basilikata) blockierten. Diese Proteste zeigten, wie durch direkte Aktionen gesellschaftliches Gewicht erlangt werden kann. Bereits im Lauf des Winters 2002/2003 waren Straßenblockaden in den Auseinandersetzungen um die Kurzarbeit bei FIAT zum Massenphänomen geworden. Auch wenn dieser Kampf mit einer klaren Niederlage zu Ende ging, hat er ein eindeutiges Zeichen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung hinterlassen. In ihren wilden Streiks im letzten Winter gingen dann die italienischen Busfahrer und die Flughafenbeschäftigten von äußeren Blockaden zur Störung des Produktionsprozesses selbst über. Selbst Busfahrer, die von der Polizei zur Arbeit gezwungen wurden, machten Bummelstreiks mittels „Dienst nach Vorschrift" oder blockierten durch extremes Langsamfahren den Verkehr.

Es scheint also, als gingen die ruhigen Zeiten für die italienischen Unternehmer dem Ende entgegen. Nachdem es jahrelang so aussah, als zerstöre die moderne Arbeitsorganisation jegliche Form von Arbeitermacht in den Fabriken, haben die Arbeiter in Melfi, auch wenn sie nicht alle ihre Forderungen durchsetzen konnten, doch gezeigt, daß man auch und gerade im flexibilisierten Produktionsprozeß erfolgreich kämpfen kann. Dazu haben sie die Schwachstellen der Just-in-Time-Produktion ausgenutzt und die unübersichtlichen Eigentumsverhältnisse der dezentralen Fabrik ignoriert und stattdessen die reale Produktion als Ganzes in den Blick genommen. Diese Strategie dürfte zur Nachahmung anregen.

Autorenkollektiv Wildcat

> Stark gekürzter Vorabdruck aus der Wildcat 70 (Juni 2004) – siehe www.wildcat-www.de

 
 
 
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