Ausgabe 05 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Ditte & Menschenkind:
Im Zuge der Zeit

Neben dem Wriezener Bahnhof, dort, bei den verlassenen toten Gleisen, ragt die Halle des Ost-Haupt-Ostbahnhofs in den Himmel über Berlin, und Menschenkind drückt seine Karo beim Betreten der Halle aus. Eine Reise in den Süden steht bevor, durch die Nacht, in den Sesseln der Deutschen Bahn AG wollen sie reisen, am liebsten allein. Ditte sitzt schon in dem Plüschabteil, voller Vorfreude auf Menschenkind und Voltaire, dessen Candide Menschenkind ihr vorzulesen versprochen hat, sollten sie wirklich allein in ihrem Abteil bleiben. Menschenkind setzt sich ins rechte Licht, holt seine Lesehilfe aus der linken Brusttasche seiner Tausendtaschenweste, ratsch, küßt Dittes rechtes Ohr und nimmt das Buch über den Helden aus der besten aller Welten in die Hand.

Es macht bereits hühühü, es ertönt dieser Abschieds-Miß-Dreiklang, den sich auch erst einmal jemand ausgedacht gehabt haben muß ... Daß der Zug abfährt! Sie sind allein! Ditte packt die zerschnittenen Paprikaschoten aus und stellt die Thermoskanne griffbereit, Menschenkind studiert noch die Stellen, da tut sich die automatische Tür auf, und hinter einer frisierten Dame stürmt eine Gruppe guttrainierter Körper herein, sämtlich männlich, mit diesen hinreißend grimassierenden Gesichtern am Kopf, die auf Showbiss hinweisen. Bis auf den letzten Platz besetzen sie das Abteil. Sagen wir mal einfach Mutti zu der Dame, die sich unserem Paar gegenüber niederläßt und die Reisetasche aufreißt ­ ratsch, Klettverschluß, daß Menschenkind unwillkürlich von seiner Lektüre aufsieht.

Mutti ruft ihre Knaben: „Wer will Schokoriegel?!" Sie wollen alle, stellen sich an wie dazumal bei der Milchpause, als die Picasso-Euter ausgeteilt wurden, ach, der kleine Plastecontainer ­ wer weiß das schon noch ... Menschenkind hält sich an dem Flyer Ihr Reiseplan fest, den mit dem Versprechen einer Deutschlandreise Roger Willemsens Foto ziert. Menschenkind krampft ihn regelrecht zu einer Papierkugel zusammen. Selbstbeherrschung! Automatisch zuckt die Hand dem Schokoriegel entgegen. Candide ist vergessen, nur von Ditte nicht, die so etwas wie einen Flunsch zieht. So hat sie sich diese außerordentliche Reise nicht vorgestellt. Klar, das ganze Abteil konnte sie nicht reservieren, und so wünscht sie sich wieder einmal Ohrenlider, um all die Neuigkeiten von Tabaluga nicht hören zu müssen. Wahrscheinlich sind diese vorbildlichen Männerkörper auf der Bühne, von der sie gerade zu kommen scheinen, in niedlichen Saurierkostümen versteckt und dürfen sich deshalb auch Schokoriegel leisten.

Die leuchtende Laufschrift über der Tür kündigt Bitterfeld an: „In Bitterfeld ist es jetzt zehn nach Sieben!" „Was, das ist ja nun quätscher als Quatsch. Es ist 22.22 Uhr, und in Bitterfeld ist es jetzt auch 22.22 Uhr." „Mensch, das ist doch ein Zitat. Aus Go Trabbi Go! Da stehen die alte und die junge Mieze aus Bitterfeld auf dem Balkon eines Luxushotels in Rom. Schwenk über die ewige Stadt ­ und die alte Mieze sagt: In Bitterfeld ist es jetzt zehn nach Sieben."

Ditte spitzt die Ohren und sieht Menschenkind schlafen. Der Zug fährt durch die Nacht. 22.29 Uhr fragt der ohne Filmkenntnis nach: „Wieso? Rom und Bitterfeld liegen doch in der gleichen Zeitzone!" „Das habe ich ja auch nicht verstanden, aber ich fand es irgendwie schön!"

Ditte betrachtet den fest schlafenden Mann Menschenkind und läuft zu der Boy-Group über: „Kennt Ihr Bitterfeld?" „Na ja, wir fahren da immer durch, und wir wissen schon, aber ausgestiegen bin ich hier noch nie ... " „Wißt Ihr, zwischen Bitterfeld und Rom liegen Welten, nicht nur eine Zeitzone. Ihr versteht?" „Naja, der Trabbi muß ja auch so was wie der Hannibal für die Italiener gewesen sein ..." „Und, spielst du mit?" Die Skatkarten liegen auf dem Tisch. Da hört sie schon Menschenkind schnarchen. Ditte spielt Dritter Mann, und als sie wieder einmal sticht und die beiden Boys aufkreischen, denkt sie so bei sich, eigentlich schön, daß der da aus Bielefeld schön findet, was er nicht versteht.

Brigitte Struzyk/Dieter Kerschek

 
 
 
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