Ausgabe 05 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Volksbegehren und Wahlalternative

Polizisten und vernünftige Autonome sollen dem Senat drohen


Foto: Steffen Schuhmann

Rund 80 Teilnehmer zählte Mitte Mai das zweite Treffen zur Organisation eines Volksbegehrens zur Absetzung des Senats. Nur als ein Vertreter der Berliner Philharmoniker das Wort ergriff, flammte Begeisterung auf, ansonsten war wenig von Aufbruch zu spüren. Der Musiker forderte, endlich mit einem Volksbegehren den Senat unter Druck zu setzten. Zögern wäre nicht angebracht, es müsse ein Signal gesetzt werden. Er verkündete die Bereitschaft der Philharmoniker, bei jedem ihrer Konzerte Unterschriften für die Initiative zu sammeln.

Solch ein Volksbegehren würde automatisch die CDU an die Macht bringen, sagen die Kritiker des Vorhabens und befürchten, daß die Politik des Sozialkahlschlags noch weiter getrieben würde. Die Befürworter des Volksbegehrens wehren sich gegen diesen Einwand. Es sei die Politik von SPD und PDS, die die CDU an die Macht bringen würde, und die Wahlen für SPD und PDS wären so oder so verloren, egal ob mit oder ohne Volksbegehren. Wie dem auch sei, von CDU, FDP und Grünen war schnell zu hören, daß sie das Volksbegehren unterstützen würden. Die Initiatoren versprechen sich, daß ihr Vorhaben von dem SPD-PDS-Senat als Drohung verstanden wird und ihn dazu bringt, seine Politik zu ändern. Konkret wird gefordert, die Kürzungspolitik einzustellen, die Risikoabschirmung für die Bankgesellschaft zurückzunehmen und mit der Privatisierungspolitik aufzuhören. Allerdings bleibt unklar, wie sich eine Berliner Regierung ohne Entschuldung seitens des Bundes Spielräume erschließen soll.

Die Versammlung stimmte nach längerer Diskussion mit großer Mehrheit dafür, ab dem 25. Mai mit der Unterschriftensammlung anzufangen. Innerhalb eines halben Jahres müssen 50000 Unterschriften gesammelt werden. Damit könnte das Volksbegehren eingeleitet werden. Dann müssen innerhalb von zwei Monaten 20 Prozent der Wahlberechtigten, ca. 480000 Personen, in den Bezirksämtern ihre Unterschrift leisten, um zu ermöglichen, daß in der dritten Stufe mindestens die Hälfte der Berliner Wahlberechtigten an einem Wahltag an dem Volksbegehren teilnehmen. Dann kann eine einfache Mehrheit den Senat absetzen.

Die Initiatoren sind sich der hohen Hürden bewußt, die sie überwinden müssen. Sie verwahren sich aber gegen Einwände, es handle sich um ein aussichtsloses Unterfangen, das die außerparlamentarischen Kräfte nur vergeude. Vielmehr setzen die Organisatoren auf einen Schneeballeffekt und die Bündelung der Proteste. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Berlin sprach sich schon für das Volksbegehren aus. Auch wird erwartet, daß die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaften (GEW) die Initiative unterstützen wird. Der DGB allerdings hat sich in Berlin gegen ein solches Vorgehen entschieden. Das angestrebte breite Bündnis bereitet schon jetzt einigen Bauchschmerzen. Das zeigt sich am Beispiel GdP. „Ich kann nicht mit denjenigen kooperieren, die Asylanten schikanieren, Obdachlose und Drogengebrauchende verfolgen und linke Demonstrierende zusammenschlagen, um z.B. Platz für Nazis freizumachen", sagte ein junger Mann auf dem Treffen.

Machte man sich am darauffolgenden Abend noch einmal in die Humoldt-Uni auf, um an dem ersten Berliner Treffen für eine Wahlalternative teilzunehmen, so konnte man dort feststellen, daß die Befürworter des Volksbegehrens mit den Vertretern der kürzlich gegründeten regionalen Wahlalternative identisch sind. Damit ist klar, daß das Volksbegehren vom Aufbau einer Wahlalternative für die Senatswahlen flankiert werden soll. Die Berliner Wahlinitiative hatte gemeinsam mit der bundesweiten „Wahlalternative 2006" und der „Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit" eingeladen. Über 300 Zuhörer kamen zu dem Treffen.

Nach Gründung eines Vereins und anschließender Mitgliederbefragung im Herbst könnte dann eine deutschlandweite Partei gegründet werden. Ob dies eine „linke" Partei wird, ist umstritten, auch, wenn die „soziale Frage" und die Destruktivität des Neoliberalismus in den Mittelpunkt gestellt werden sollen. Da man weit in die Mitte der Gesellschaft wirken will, scheint es dem Koordinierungskreis, der in beachtlicher Leistung in den letzten zwei Monaten dutzende Versammlungen dieser Art in der ganzen BRD organisierte, wichtig, das Wort „links" oder gar „Sozialismus" zu vermeiden. Das Einigende soll betont und das Trennende hintangestellt werden.

Das schmeckte dem Publikum nur zum Teil. Denn auf dieser Art Treffen sieht man überwiegend Ex-Parteimitglieder, Gewerkschafter, attac-Mitglieder und Anhänger trotzkistischer Gruppen, die eine neue Partei wollen. Davon bereitet wenigen die Vision einer sozialistischen Gesellschaft ein Problem. „Vom vernünftigen Autonomen in Kreuzberg bis hin zum christdemokratischen Arbeitnehmer" soll aber das Bündnis für eine Wahlalternative reichen, forderte Michael Prütz, die treibende Person hinter dem Volksbegehren und der Berliner Wahlalternative. Als ehemaligem Grünen und Ex-PDS Mitglied ist ihm, wie anderen Protagonisten auch, eine gewisse Routine im politischen Geschäft und kamerataugliche Rhetorik nicht abzusprechen. Transparent, basisdemokratisch und bewegungsnah solle so eine Partei organisiert werden, so Prütz.

Sieht man vom Mißtrauen mancher gegenüber Quasi-Berufspolitikern ab, bleibt einiges unklar. Denn es gibt in Deutschland bis jetzt nur in Ansätzen eine soziale Bewegung, und die findet kaum auf der Straße statt, sondern auf den hier beschriebenen Treffen. Und ob ein „vernünftiger Autonomer" unter der „sozialen Frage" das gleiche versteht wie ein christdemokratischer Angestellter oder gar Polizist, darf bezweifelt werden.

Lorenz Matzat

> Infos unter www.berliner-wahlalternative.de, www.wahlalternative.de und www.berliner-sozialbuendnis.de

 
 
 
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