Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Kaufhaus und Gleisanschluß

Kritik am Bau (II): der Bahnhof Gesundbrunnen

Daß es mit dem Repräsentationsbedürfnis der Bahn nicht mehr so weit her ist, weiß man, seit Hartmut Mehdorn die weit geschwungene Glasröhre des Lehrter Bahnhofs kürzte. Bis zur Fußball-WM muß der Bahnhof fertig sein, egal wie lang. Der Panikanfall des Bahnchefs sparte erwiesenermaßen weder Zeit noch Geld, aber das Zeichen war gesetzt: Schluß mit den albernen Prestigeprojekten; das einizge, was jetzt zählt, sind Schienen und daß was drauf rollt.

Am Gesundbrunnen wirkt sich die neue Sparsamkeit noch drastischer aus. Hier errichtet die Bahn einen Verkehrsknotenpunkt mit Umsteigemöglichkeiten in alle Himmelsrichtungen; verschlungene Gleisanlagen, neue Brücken und Tunnel entstanden, fünf Bahnsteige für S- und Fernbahn sind im Bau ­ aber die Fahrkarten werden wohl in Containern verkauft. Wenn die Bauzäune verschwinden, ragen nur noch einige Aufzüge aus der millionenschweren Betonplatte, die man über die Gleise gelegt hat. Irgendwo am Rand kriechen die Treppenanlagen zaghaft von den Bahnsteigen herauf, gegenüber reckt sich mit rührendem Pathos der Brückenpfeiler der neuen Badstraßenbrücke in die Luft. Von der verkehrstechnischen Perfektion, die sich im S-Bahn-Graben entfaltet, ist hier oben nichts zu spüren.

Unangefochten beherrscht das riesige Shoppingcenter den Platz. Es hat sich als neidischer Nachbar erwiesen: Nicht nur, daß die Betreiber das alte U-Bahn-Empfangsgebäude abreißen wollten, das dem Center vor der Nase steht. Den neuen Fernbahnhof riegelte das Center vollkommen von der Nachbarschaft ab. Nicht einmal eine vernünftige Querverbindung wurde erlaubt, denn um die Kunden lange zu halten, hat ein Shoppingcenter grundsätzlich so wenig Ausgänge wie möglich. Um die Rückseite ihres Bahnhofs zu erschließen, mußte die Bahn das Center mit einer irrwitzigen Brücke umkurven.

Der Architekt des Bahnhofs, Axel Oestreich, spricht vorsichtig von einer „ungewöhnlichen Planungsgeschichte". Vor zwölf Jahren gewann er den Wettbewerb, noch 1996 wurde sein Konzept bei der Architektur-Biennale in Venedig in der Ausstellung Renaissance der Bahnhöfe. Die Stadt im 21. Jahrhundert hoch gelobt, seitdem muß er zusehen, wie es die Form verliert. Planungsänderungen, Kürzungen, ein endloser Baustop. Zwischenzeitlich wurde ihm sogar der Auftrag entzogen, weil er „zu dickköpfig" war und gleichzeitig, wie er betont, kein „Stararchitekt", der sich Dickköpfigkeit erlauben kann. In seinem Büro steht noch das ursprüngliche Modell: eine quer liegende Halle mit bequemen Zugängen zu den Bahnsteigen, zur Badstraße, von fünf gedrungenen Bürotürmen abgeschlossen. Später wollte die Bahn immer mehr Büroflächen, dann lieber gar keine mehr. Der aktuelle Entwurf sieht nur noch zwei solcher Türme vor, aber weder für die Büros noch für die Halle, die vor allem kommerziell genutzt werden sollte, finden sich Investoren. Das Shoppingcenter deckt den Bedarf ab.

Immerhin hat es damit verhindert, daß der Bahnhof selbst ein „Kaufhaus mit Gleisanschluß" wird. Wohl als einziger der „Bahnhofsrenaissance" der Neunziger darf er ein purer Transitraum sein, der nicht Konsum anreizt, sondern Verkehr abwickelt. An den fertigen Bauabschnitten unten im S-Bahn-Graben sieht man, wie gut er diese Aufgabe erfüllt. Die Erschließungsräume wirken angenehm großzügig, aber nicht pompös, die Mauern schwer und solide, die Bahnsteigdächer sachlich. Die Materialien sind matt und ruhig: anthrazitgrauer Stahl, silbergraues Blech, ein wenig Milchglas hier und da, schlichte, regelmäßige Fliesenmuster, natürlich in Grautönen. Die Marmor-Bemalung der Betonstützen im Übergang zur U-Bahn suggeriert gediegenen Luxus und verrät eine konservative, ja nostalgische Entwurfshaltung, ebenso die sorgsam gemauerte Verblendung der Außenwände: Muster aus rotem und schwarzem Backstein, wie bei den Verkehrsbauten der zwanziger und dreißiger Jahre. Auch die Brücken am nahegelegenen Nordkreuz hat Oestreich in dieser ruhigen Formensprache, mit schwarzgrauem Stahl und dunklem Backstein gebaut, wie auch den neuen Abschnitt der Badstraßenbrücke mitsamt seinem skurrilen Brückenpfeiler. Ursprünglich sollte dieser Stil, mit den Worten des Senatsbaudirektors Hans Stimmann, „als gestalterische Einheit das Gesicht der Bahn an dieser Stelle prägen".

Die „gestalterische Einheit" bleibt zwar bis auf weiteres unvollendet. Aber als pragmatischer Verkehrsbau steht der halbe Bahnhof der Bahn gut zu Gesicht – besser jedenfalls als ihre „Kaufhäuser mit Gleisanschluß", die dutzende „Reisebedarfs"-Läden oder sogar ganze Fußgängerzonen aufnehmen und bestenfalls nach Flughafen aussehen. Solche Projekte müssen völlig verschiedene Funktionen mühsam kombinieren – Einkaufen, Reisen, Flanieren und das Einfach-mal-Rumhängen, das nun einmal zu Bahnhöfen gehört. Am Gesundbrunnen hingegen ist alles sauber getrennt: das Kaufhaus, sein Gleisanschluß und ein unbestimmer Platz, der bestimmt noch seine Nutzer findet.

Johannes Touché

Foto: Antje Lüddecke

 
 
 
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