Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Die Welt, wie sie einmal war

Renaissance der Vormoderne: Jan Wagner dichtet im Retrostil

„dabei, die worte an dich abzuwägen –/die paare schweigend auf geharkten wegen,/die beete laubbedeckt, die bäume kahl,/der zäune blüten schmiedeeisern kühl,/das licht aristokratisch fahl wie wachs –" („Botanischer Garten"). Mit diesen leicht manierierten Sonettversen, jedoch mühelos gereimt und stilsicher, eröffnet Jan Wagner seinen zweiten Gedichtband Guerickes Sperling. Und wir betreten quasi vom ersten Gedicht an die Welt des Autors: eine scheinbar vergangene Zeit, die uns ihrer Stilleben versichert. Bereits mit seinem ersten Gedichtband Probebohrung im Himmel hatte der Berlin-Hamburger Lyriker sein poetisches Prinzip deutlich gemacht, aus kleinen Dingen eine für den Leser „gesicherte Welt" zu entwerfen, die sich der realen Gegenwart auf kindliche Weise weitestgehend entzieht. Derart sind auch eine Vielzahl von Wagners neuen Gedichten, die u.a. an den Orten der Kindheit nach Impressionen suchen wie in dem Gedicht „Regenwürmer": „jahre später/seh ich am himmel ihre schatten ziehen, riesig,/in dunklen wolken präsentiert sich mir die welt/vorm fenster als kaltes quadrat."

Über den Band verstreut finden sich eine Reihe solcher leichten Phantasien im Stile kleiner Musikstücke, sei es in Naturgedichten sowie Reiseimpressionen, in denen Jan Wagners stilistische Fähigkeiten zum Vorschein kommen. Hier schreibt einer, der sein Handwerk beherrscht. Wenn Wagner dann aber wie im Titelgedicht „Guerickes Sperling" die Frage aufwirft: „was ist das, unsichtbar und doch so mächtig,/daß keine kraft ihm widersteht?" wird die Tonlage unüberhörbar, die uns noch einmal in das Raunen aus dem Stimmenwald deutscher Dichtung des 19. Jahrhunderts versetzt, in die Zeit hingetupfter Sonnenuntergänge, wie sie wohl Rilke und Hofmannsthal beim Tee vom Balkon einer Villa am Wörthersee gesehen haben mögen.

Wagners Gedichte behaupten die Welt als Summe vieler freundlich ins Bild gesetzter Nuancen. So ist es nicht verwunderlich, daß die Wahrnehmungsstrategien des Lyrikers Jan Wagner verglichen werden können mit der Erfindung der Fotografie 100 Jahre später im Zeitalter des Bildverlustes bzw. seiner Auslöschung. Insofern zeigen die Texte motivisch wie formal eine deutliche Rückwärtsbewegung an, eine Renaissance der Vormoderne: „blaue abende, in die wir stiegen/wie in keller voller alter weine./der mond, das helle artischokkenherz/der jahresmitte ..." („Caprice im Hochsommer")

Dem Autor deshalb gleich einen „Biedermeierstil" unterstellen zu wollen, greift wohl zu kurz oder zum Teil daneben: Wagners Gedichte sind der mit allen Mitteln konservative Versuch, eine heile oder zumindest noch zu rettende Welt in den Momenten der Glückseligkeit zu saturieren. Wenn Wagner, und das ist selten, diese Momente, allenfalls sehr subtil, zu brechen versucht, beginnt das eigentlich Interessante seiner Gedichte: „der himmel abends mit den farben von/gesangbuch und von schlehenschnaps. die hügel/sanft und wie von meisterhand radiert./fachwerkhäuser, die im schatten grasen.//gestärkte weiße hemden in den schränken/warten auf den toten, der ihnen paßt./das bellen eines hundes läßt/die stille wachsen. und die stille wächst." („Eberhardzeller Ekloge"). Derlei zumindest im Ansatz aufbrechende Textstrukturen finden sich jedoch zu wenige bei Jan Wagner, dem man sogar eine gewisse Beliebigkeit vorwerfen könnte, sieht man sich sein Porträtgedicht „Kolumbus" an, in dem der junge Kolumbus am Hafen steht: „wo die matrosen/mit scharfem atem von atilia schwafeln", „sich die taue an der mole/im schlaf zusammenrollen und die schrift/des tangs verwischt ..." Das ist sehr hübsch gemacht, nur man fragt sich, warum Jan Wagner mit keiner einzigen Zeile über die harmlose Sicht auf das zu sprechen kommt, wofür die historische Figur Kolumbus signifikant wurde: das Zeitalter der größten Völkermorde. Muß ein solches Gedicht heutzutage nicht zwangsweise wenigstens vom Denkansatz her ein zivilisationskritischer Text sein und nicht wie bei Wagner bloß eine nette lyrische Anekdote?

Zudem: In Jan Wagners Gedichten ist jedwede soziale Realität schlichtweg ausgespart. Nicht einmal in der Beschreibung Neuköllner Ghettoisierung: „ein firmament von glückspielautomaten,/die kleine nachtmusik der ambulanzen ..." („Neukölln I") taucht sie auf. Noch in den Sirenen der Krankenwagen findet Wagner etwas Anheimelndes wie Mozarts süßliche Komposition.

Wenn Dichtung ein Spiegel ist, der der Wirklichkeit vorauszugehen vermag, dann vermißt man bei Jan Wagner die sprach- und gegenwartskritischen Findungen, den Versuch, die eigene ­ womöglich im guten Willen harmonisierte ­ Welt wenigstens gelegentlich in Frage zu stellen. Zumindest einmal versucht Wagner eine kritische Durchleuchtung: „die veteranen wachsen aus dem gras/empor in ihren ehren-uniformen", „sie wachsen aus dem gras wie in den mythen/das heer der ausgesäten drachenzähne." („Veteranengarten")

Jan Wagner, so möchte man meinen, ist mit großer Kunstfertigkeit bei einer Handwerklichkeit angekommen, die einen kaum mehr für möglich gehaltenen Retrostil anklingen läßt, ein Summen und Rauschen beinah aus der guten alten Zeit.

Tom Schulz

> Jan Wagner: Guerickes Sperling. Gedichte. Berlin Verlag, 2004. 16 Euro

 
 
 
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