Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Produktives Verbrechen

Real Crime ­ Städtebau aus Angst

Foto: Knut Hildebrandt

Daß Städtebau etwas mit sozialen Problemen zu tun hat, kann nicht oft genug gesagt werden. Michael Zinganel hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Zusammenhang noch zuzuspitzen: Die Gestalt der Stadt wird wesentlich von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung bestimmt. Eine abwegige Theorie? Ja, aber lustig.

Der Wiener Architekturtheoretiker und Künstler zählte sich jüngst auf einer Berliner Veranstaltung zu den „typischen Akademikern", die sich in ihrer eigenen braven Heimat so langweilen, daß sie in den Slums fremder Städte nach abenteuerlichen Phänomenen suchen ­ um sie dann akademisch zu verwerten. Zinganel hatte damit Erfolg. Mit seinem Buch Real Crime. Architektur, Stadt & Verbrechen hat er seine Sympathie für alles Illegale in eine schöne Form gebracht. Anhand verschiedener Orte und Epochen, aber auch mit Hilfe der Film- und Literaturgeschichte weist er nach, daß die Städte nicht nur von wirtschaftlichen oder militärischen Notwendigkeiten, ästhetischen Idealen oder technischen Neuerungen geprägt werden, sondern von ihrem ständigen Kampf gegen die Bedrohung „von innen".

So war es vor allem die Armutskriminalität, die das Zentrum der US-amerikanischen Stadt entleerte ­ bis es, wie im Fall Detroits, zur wüsten „Vorstadt seiner Vorstädte" wurde. Das bedrohte Bürgertum reagierte mit festungsartigen Shoppingcentern und der räumlichen Isolation, gar dem Totalabriß mißliebiger Viertel; die „gated communities", die sterilen und verregelten Bilderbuchstädtchen des „New Urbanism", erlauben sogar den kompletten Rückzug aus dem Angstraum der Großstadt. Überall macht Zinganel diese Angst aus, und überall sieht er angstgesteuerten Aktionismus. Den sozialdemokratischen Wohnungsbau im Wien der Zwanziger interpretiert er als „Zähmung" unkontrollierter Bevölkerungsgruppen, die Gentrifizierung der heutigen Innenstädte als organisierte Vertreibung. Die Medien (oder die interessierten Immobilienunternehmen selbst) bereiten sie mit panischen Schreckensmeldungen vor, die Soziologen liefern besorgte Analysen, die Stadtplaner das Konzept. Dann wird die Aufwertung gewinnbringend durchgesetzt, zum Schaden der illegalen Einwanderer, der Straßenkinder, Dealer, Huren, Luden, Diebe, Schmuggler, Hehler usw., die natürlich nicht „verbessert", sondern vertrieben werden. Wie übrigens schon seit Jahrhunderten.

Gleichzeitig analysiert Zinganel eine „Krise der Repräsentationsarchitektur". Politischer Terror und andere Erpressungskriminalität zwingen Regierungen, Großkonzerne und ganze Geschäftsviertel, sich hinter mal raffiniert versteckten, mal martialischen (und entsprechend unansehnlichen) Sicherheitssystemen zu verbarrikadieren. Für den Krisenfall richten manche Unternehmen ­ wie in London seit den Anschlägen der IRA ­ in unscheinbaren Vororten bewußt unrepräsentative Ersatzzentralen ein. Nicht nur in Genua werden bei internationalen Konferenzen ganze Stadtteile abgeriegelt, seit neuestem zieht man sich gar in entlegene, schwer bewachte Landhotels zurück, um über das Wohl und Wehe der Völker zu beraten. Die Angst regiert nicht nur bei den Bürgerlichen; auch die Elite sucht zunehmend den Schutz von Befestigungen.

Den theoretischen Hintergrund für seine Arbeit borgt sich der Autor bei Karl Marx. Verbrechen ist eine „Produktivkraft", die von Glasern und Schlossern über Polizisten, Richter und Gefängniswärter bis zu Ingenieuren und Kulturschaffenden (wie Zinganel selbst) viele Leute ernährt und voranbringt. Hier ist Kriminalität also nicht nur moralisches Übel oder soziales Problem. Zinganels eigene Definition bleibt freilich schemenhaft; die naheliegende Frage: Wann ist eine Tat ein Verbrechen? läßt Zinganel freilich links liegen. Ist jedes Aufbegehren gegen staatliche Regeln gleichermaßen „verbrecherisch", ist umgekehrt staatlicher Terror ­ oder legaler privatwirtschaftlicher Betrug ­ niemals „Verbrechen"? Hier hätte zumindest eine bündige Definition gut getan. Stattdessen folgt Zinganel brav dem jeweiligen Gesetzbuch: Verbrechen ist alles, was zufällig gerade verboten ist.

Real Crime ist ein Sammelsurium von aufschlußreichen Beobachtungen; eine schlüssige Theorie sucht man vergebens. Zum Ausgleich läßt der mal freundlich ironische, mal scharf sarkastische Schreibstil nicht nur Zinganels Gesinnung erahnen ­ er macht auch beim Lesen einen Heidenspaß. Ein „typischer Akademiker" ist der Mann wohl doch nicht.

Johannes Touché

> Michael Zinganel: Real Crime. Architektur, Stadt & Verbrechen, edition selene, Wien 2003. 25 Euro

 
 
 
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