Ausgabe 04 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Geostrategie-Geraune und hoffnungsvolle Kleinigkeiten

Was haben Berlin, Kraków, Poznan und Szczecin gemein?

Wo liegt Berlin? Die Frage stand in letzter Zeit oft zur Diskussion, aber die Antwort – ziemlich weit östlich! – will partout nicht ins allgemeine Bewußtsein dringen. Mit dem EU-Beitritt Polens und der baltischen Länder am 1. Mai dürfte sich das ändern. Manche glauben, daß dieser Umbruch mehr Bewegung in die Berliner Gesellschaft bringen wird als alle städtebaulichen Debatten der Neunziger zusammen. Die Anzahl der hier lebenden Polen wird weiter ansteigen, der Austausch an Waren und Ideen sich intensivieren. Und vielleicht birgt der Beitritt auch Überraschungen: Während die Polen noch für einige Jahre zwar hier leben, aber nicht legal arbeiten dürfen, können die Deutschen schon jetzt jenseits der Grenze Wohnung und Auskommen suchen. Wenn die Berliner Wirtschaft weiter so schrumpft wie bisher und die Mittel- und Osteuropas nach dem Beitritt auch nur annähernd so aufblüht wie seinerzeit die Spaniens und Portugals, ist eine Arbeitsemigration nach Polen keine abwegige Vorstellung. Bereits jetzt hört man aus der Grenzregion die ironische Geschichte, daß die Deutschen zwar nach wie vor nach Polen fahren, um dort günstig Adidas-Kopien abzusahnen. Die Originale aber würden inzwischen von Polen in Deutschland gekauft.

Polen

Andererseits wächst der Handel Polens z.B. mit Nordrhein-Westfalen um ein Vielfaches schneller als der mit Berlin. Auch viele der Polen, die zum Arbeiten über die Grenze kommen, reisen lieber weiter nach Westdeutschland, London oder Spanien, dorthin, wo es noch anständige Jobs gibt. Und Berlin selbst verharrt „mit dem Rücken zur Oder" und ist vor allem mit sich selbst beschäftigt.

Am 1. April befaßte sich im Roten Salon der Volksbühne eine Podiumsdiskussion mit diesem Phänomen, „Berlin ­ Metropole im europäischen Osten" war der hoffnungsvolle Titel. Die Veranstaltung war als Planertreffen gemeint und sollte außer der Minderheit slawophiler Berliner Intellektueller auch Architekten und Stadtplaner ansprechen. Als Themen waren neue „metropolitan areas" zwischen Berlin und Kraków, Pozna´n oder Szczecin vorgegeben, die Planungskultur hüben und drüben, sowie Berlin als „Ost-West-Drehscheibe", was ja auch irgendwie ingenieursmäßig klingt.

Aber von planerischen, gar handfest infrastrukturellen Maßnahmen, die die westpolnischen Zentren und die ostdeutsche Fast-Grenzstadt einander näherbringen könnten, war an diesem Abend wenig zu hören. Wer sollte sie auch durchsetzen? Die Politik jedenfalls nicht, da waren sich das Podium ­ zwei Journalisten, eine Soziologin und zwei Ökonomen ­ schnell einig. Sie kommt über Symbolpolitik nicht hinaus, und selbst da mangelt es nicht an schlechten Beispielen: Beide Staaten versagen seit Jahren bei dem Versuch, ihre Eisenbahnnetze vernünftig zu verknüpfen; der Berliner Senat zerstört mit Eifer genau das billige Wohnungsmarkt-Segment, das eine Einwandererstadt braucht; der Szczeciner Bürgermeister nennt sich einen „Anti-Deutschen"; sein Berliner Kollege bekannte in einem Interview, den Namen seines eigenen Mittel- und Osteuropa-Koordinators nicht zu kennen. Wolfram Martinsen heißt der Mann; er saß rechtsaußen auf dem Podium und scheint seinerseits wenig für Politiker übrig zu haben. Wenn sie unbedingt wollten, fand er, könnten sie den deutschen Auslandsinvestoren als „Türöffner" dienen, „aber wir schaffen das auch so." Ein früherer Siemens-Vorstandsvorsitzender muß wohl so reden.

Allerdings scheint auch die reine marktwirtschaftliche Lehre keine mitreißende Vision für die Zeit nach dem Beitritt zu bieten. Martinsen zählte ein paar Unternehmen auf, die zufällig in beiden Ländern agieren. Tomasz Kalinowski, der polnische Botschaftsrat für Wirtschaft, wußte auch von einigen Polen, die in Berlin eine Firma gründen. Der Journalist Uwe Rada brachte die „neun Millionen Kunden" der polnischen Grenzregion ins Spiel, die ­ theoretisch ­ auch in Berlin einkaufen könnten. Aber niemand konnte sagen, warum sich Kunden aus Pozna´n oder Kraków ausgerechnet nach Berlin orientieren sollten, statt nach Warschau; warum internationale Konzerne in Berlin ihre Mittel-Ost-Europa-Sitze einrichten sollten statt in Prag oder Wien; oder warum polnische Unternehmer gerade von hier aus den westeuropäischen Markt erobern sollten statt von Zuhause.

Fazit: Eine „metropolitan area" zwischen Berlin, Szczecin, Pozna´n und Kraków ist wohl den alten Kamellen à la „Zugang zur Ostregion" zuzurechnen: Geostrategie-Geraune, das wahlweise nach Sonntagsreden oder nach militärischen Aufmarschplänen klingt und mit der Realität wenig zu tun hat.

Nirgendwo Hoffnung auf frische Impulse? Wird sich diese Stadt zerknirscht und mürrisch ihrer wirtschaftlichen Depression, ihrer Kleinkiezigkeit und Nostalgie ergeben, während ein paar dutzend Kilometer östlich neue Zeiten anbrechen? Außer Ärgernissen und Fehlleistungen kamen auf dem Podium auch einige hoffnungsvolle Kleinigkeiten zur Sprache: Auf der Ebene der „kleinen Leute" wird der Kontakt zwischen Berlin und seinen polnischen Nachbarstädten enger. Nicht nur, daß man dem anderen die Wohnung putzt und die Kinder hütet, daß man sich gegenseitig die Läden leerkauft oder gemeinsam auf dem Bau schuftet. Man reist auch herum, gründet Internetportale oder Clubs, organisiert Theaterprojekte oder Konzerttourneen, studiert zunehmend die Sprache des Nachbarlandes und lernt, daß gewisse Plagen ­ Armut, Arroganz, Ausländerrecht ­ sich international ähneln.

Daß die Unterschiede so groß nicht sind, zeigt eine kleine Anekdote aus Warschau, die Thomas Urban, Warschau-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, zum besten gab. Nur wenige Tage zuvor war er dort auf einer Podiumsdiskussion gewesen, die die Annäherung an den Westen zum Thema hatte. Und was taten die Warschauer? Sie schimpften über unfähige Politiker und beklagten die eigene Provinzialität.

Otto Witte

Foto: Steffen Schuhmann

 
 
 
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