Ausgabe 03 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Eingezäunte Freizeit

Jedem Berliner seine 2,5 Quadratmeter Sportfläche

Wer spätabends durch die Cantianstraße in Prenzlauer Berg läuft, bewegt sich entlang einer dunklen Freifläche, auf der es huscht und keucht. Schnelle Schatten drehen ihre Runden, überholen einander, spurten, geben schnaufend auf: Es sind Schwarz-Jogger. Denn das Gelände ist mit einem hohen Gitterdrahtzaun geschützt wie ein Hochsicherheitstrakt, die schmale Eingangstür verschlossen. Die „militanten" Freizeitsportler, die außerhalb der eng begrenzten Öffnungszeiten in dem 400 Meter Umfang messenden Käfig unterwegs sind, begeben sich nicht nur freiwillig hinter Gitter, sondern auch in Konflikt mit dem Gesetz – schließlich erfüllt das Überklettern des Zauns strenggenommen den Tatbestand des Hausfriedensbruchs – oder gar der Sachbeschädigung, weil die Absperrung durch das massenhafte Übersteigen beschädigt wird.

Offensichtlich gibt es für viele Läufer in Prenzlauer Berg keine Alternative zu diesem Gelände. Warum sonst sollten sie sich die Mühe machen und den Zaun überklettern? Und warum sonst demonstrierten Ende März ca. 300 Läufer für die Öffnung des Platzes? Ein Blick in die Statistik der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport bestätigt diese Annahme. Ihr zufolge gibt es in den Innenstadtbezirken nicht ausreichend Sportanlagen. Im Prenzlauer Berg sind nur 40 Prozent des Bedarfs an Laufbahnen gedeckt. Wegen der Finanzkrise Berlins ist ein Ausbau der Sportinfrastruktur auf absehbare Zeit nicht zu erwarten.

Die Richtzahlen für den ermittelten Bedarf sind jedoch ohnehin fragwürdig. Sie stammen aus den siebziger Jahren und sollten seinerzeit der Planung jeglicher kommunaler Infrastruktur zugrundegelegt werden. Hinter den Zahlen steht eine Auffassung, nach der alle Lebenssituationen und Bedürfnisse in Formeln und meßbaren Größen ausgedrückt werden können. Dieser technikgläubige Ansatz gilt heute längst als überholt. Er orientiert sich an fiktiven Normbürgern anstatt an den Bedürfnissen der Menschen.

Stadtplanung beschränkt sich heute nicht mehr darauf, Planzahlen zu erfüllen; bis in die Sportpolitik scheint dies noch nicht vorgedrungen zu sein. Dabei ist die Frage naheliegend, was ein Richtwert von 2,5 m2 Sportfläche pro Einwohner über die tatsächliche Verfügbarkeit und die Ausstattung der Flächen aussagt. Wenn die Finanzkrise die Kommunen zu immer kürzeren Öffnungszeiten für Sport- und Freizeitanlagen zwingt, dann sind Flächenmaße kaum noch als alleinige Bezugsgrößen für Bedarfsermittlungen geeignet. Wenn die Tagesrhythmen der Bewohner einer Stadt, ihre Arbeitszeiten und ihre Freizeitgestaltungen immer weiter auseinanderdriften, interessiert weniger das Vorhandensein einer Fläche als ihre Öffnungszeiten.

Das gilt auch für andere Lebensbereiche: Öffnungszeiten von Läden und Behörden, Fahrpläne des öffentlichen Nahverkehrs, Betreuungszeiten von Kitas, Lage der Schulferien ­ sie haben einen maßgeblichen Einfluß auf die zeitliche Gestaltung des Alltags ­ und sind Ergebnisse politischer Entscheidungen. Damit sind sie aber auch gestaltbar und können als eigenständiges Politikfeld betrachtet werden. „Zeitwohlstand" heißt das dann im Soziologen-Deutsch. Professor Ulrich Mückenberger von der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik spricht gar von „Nicht-Diskriminierung im alltäglichen Zeitgebrauch" als einem Grundrecht. Mit zeitpolitischen Ansätzen operiert in Italien bereits eine ganze Reihe von Städten und stützt sich dabei auf Ideen, die ihren Ursprung in der dortigen Frauenbewegung der achtziger Jahre haben. Nach Deutschland importiert wurden sie von der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Vorreiter auf kommunaler Ebene ist Bremen: Im Rahmen des bundesweiten Forschungsverbundes „Stadt 2030" gibt es dort unter anderem ein Modellvorhaben, das die verschiedenen Zeitbedürfnisse der Bewohner eines Stadtteils durch die Einrichtung von „Zeitbüros" koordinieren soll.

Wie aber koordiniert man die Zeitbedürfnisse von spontanen Laufwilligen, von ausgleichsbedürftigen Workaholics, von kateraustreibenden Spätaufstehern, von Gleitzeitbeschäftigten, von tagesrandzeitaktiven Familienvätern und -müttern ­ und diese alle mit denen des Platzwarts im öffentlichen Dienst? Wie also bekommt man all diese abgehetzten Individualisten unter einen Hut, ohne daß zusätzliches Personal eingestellt werden muß, das wiederum Geld kostet, welches nicht vorhanden ist?

Wie in anderen Bereichen des öffentlichen Lebens auch, die der Staat nicht mehr finanzieren kann, wird hier die vielzitierte „Bürgergesellschaft" als Ausfallbürge des Staates aufgerufen. Damit sind in der Welt des Sports vor allem die Vereine gemeint, denen das Land Berlin die Betreuung von Sportanlagen entgeltfrei übertragen kann. Doch diese werden der individuellen Nutzung dadurch weitgehend entzogen. Gerechtfertigt wird das mit dem angeblichen „gesellschaftlichen Mehrwert", den Vereine durch Schulung „demokratischer Kompetenzen" und ihre „Integrationsleistungen" erbringen. Doch der Politikwissenschaftler Thomas Leif bezeichnete jüngst in der Frankfurter Rundschau als wichtigste „demokratische" Fähigkeiten, die sich in einem Verein und seinen Gremien erlernen lassen, „Klüngel, Vetternwirtschaft, Bevorteilung und Intrigieren". Die jüngsten Skandale im Zusammenhang mit dem Bau von Stadien für die Fußballweltmeisterschaft 2006 und mit der Olympia-Bewerbung 2012 scheinen dies zu bestätigen. Statt zur erhofften Ertüchtigung von Leib und demokratischem Geist führt die Förderung der Vereine demzufolge auf direktem Wege zum Modell eines „Verbändestaates mit funktionierenden Lobbystrukturen".

Wenn der „Bürgergesellschaft" staatliche Aufgaben von Verfassungsrang (wie er dem Sport in Berlin eingeräumt wird) übertragen werden sollen, muß also der Rückgriff auf deren institutionalisierten Teil nicht die beste Option sein. Zwar gibt es ganz pragmatische Vorteile ­ denn Vereine sind für Behörden verläßliche Verhandlungspartner, die im vereinsungebundenen Freizeitsport schwer ermittelbar sind. Aber andererseits setzt man damit auf einen Gesprächspartner, dessen Bedeutung seit Jahren rückläufig ist. Das landeseigene Institut für Sportmedizin stellt fest, daß in den letzten Jahren privat betriebener Sport „bereits mehr als die Hälfte der gesamten Sportaktivitäten ausmacht". Unter den Joggern, zu denen sich nach einer Studie aus dem Jahre 2001 jeder fünfte Deutsche zählt, dürfte der Anteil der „Unorganisierten" noch höher liegen. Der Breitensport kommt ohne aufwendige Ausrüstung und elitäre Ausgrenzung aus.

Wie aber werden die Interessen all jener artikulierbar, die sich keinem Verein anschließen wollen? Erklärt man sie kurzerhand zu Ich-Vereinen und damit zu verläßlichen Interessenvertretern? Gründet man, wie für Ende März vorgesehen, einen Runden Tisch und startet damit einen langwierigen und mühsamen Aushandlungsprozeß? Oder ist nicht die neoliberale Forderung an dieser Stelle einmal wirklich angebracht: Lösen wir das Problem durch Deregulierung: Laßt einfach das Tor offen!

Gregor Jekel

Foto: Knut Hidebrandt

 
 
 
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