Ausgabe 03 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Poesie des Zufälligen

Ansichten eines langjährigen scheinschlag-Lesers

Noch bis zum 4. April ist in Schaufenstern der Brunnenstraße zwischen Invaliden- und Anklamer Straße die Ausstellung „bildrepublik ­ 13 jahre fotografie im scheinschlag" zu sehen. Fünf Fotografinnen und 20 Fotografen zeigen ihre Stadtbilder aus allen Phasen der scheinschlag-Geschichte. Zur Eröffnung am 20. März gab Hansgert Lambers, der Verleger des ex pose verlags, der auf Autorenfotografie mit dem Schwerpunkt Osteuropa spezialisiert ist, die folgende Einführung.

Fotografie tritt in vielerlei Gestalt auf. Als Kunst kommt sie neuerdings vorzugsweise in riesigem Format daher, denn Größe überwältigt! Klotzige Werbefotografie brüllt uns überall an. Die Amateurfotografie ist kleinformatiger und inzwischen auf Elektronik-Trip. Und dann gibt es den Fotojournalismus, also Bilder für die Zeitung. Dieses Stichwort läßt an Reportagen denken und an Zeitschriften wie Life oder daran, wie der stern einmal war. Es umfaßt aber auch den Tageszeitungsbedarf: Politiker-Konterfeis, Filmstar-Auftritte oder Bebilderung von sonstigen Desastern.

scheinschlag-Fotografen machen jedoch Andersartiges: Man nennt es Stra-ßenfotografie, und was auf diesen Straßen passiert, wird beachtet, ernstgenommen, aufmerksam notiert. Der Begriff „Flaneur" schleicht sich an, aber den wollen wir beim Berlin oder Paris der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lassen. Heute gibt es nichts zu flanieren. Ladengeschäfte verschwinden zusehends, die haben sich per Handelsketten in „Centern" verklumpt. (Ist die Brunnenstraße, zumindest mit den scheinschlag-Bildern in den Schaufenstern, eine letzte „Flaniermeile"?) Dennoch: Stadt ist eben nicht Dorf mit Blümchen am Wegesrand. Die scheinschlag-Fotografen nehmen wahr, was direkt vor aller Augen liegt: Fassaden, auch schon mal Wahrzeichen wie Fernsehturm oder die Synagoge kommen von ungefähr ins Bild, Graffiti, Supermarkt-Einkaufswagen und natürlich Leute, die da hindurch hasten oder grad ein Bier trinken. Aufmerksam und mit souveräner Selbstverständlichkeit wird das abgelichtet. Das ist aufregender als Bushs Plastik-Truthahn oder Janet Jacksons besternte Brustwarze.

Wie aber definiert sich nun dieser fotografische Stil des schnellen Zugriffs auf Wirklichkeit? Mir fällt zunächst eine unsentimentale Liebe zur Stadt auf, wie etwa bei Robert Doisneau oder Willy Ronis. Das ist die inhaltliche Qualität, die formalen Aspekte kommen woanders her. Lee Friedlander und Gary Winogrand stehen für die Mißachtung konventioneller Gestaltungsprinzipien zugunsten verblüffender Sichten auf die Wirklichkeit, und Sylvia Plachy fügte dem Poesie hinzu. Dezentrierte Bildausschnitte ergeben sich aus blitzschneller Reaktion auf Konstellationen der Straße. Grobkörnig-dramatisches Schwarz brachten Japaner ein ­ Shomei Tomatsu, Daido Moriyama ­, auch der Schwede Anders Petersen oder Italiener wie Moreno Gentili haben diese „schmutzige" Ästhetik im Sinne der „dirty notes" des Jazz. Allen voran aber könnte Bernard Plossu, der gleichsam en passent den Geist eines Ortes mit banalen Bildern festzumachen vermag, Ziehvater der scheinschlag-Lichtbildnerinnen und -Lichtbildner sein.

Vielleicht aber scheren sich unsere Fotografinnen und Fotografen um obige Vorgänger gar nicht. Dann wäre das Stichwort „Unbekümmertheit" umso mehr die gültige Überschrift ihres Tuns. Aber da alles nun mal in unserem Berlin geschieht, will ich noch einen Versuch starten, die hier gezeigte Stilistik historisch zu illustrieren. Da kann ich ganz früh mit Heinrich Zille beginnen, den Enno Kaufhold als ersten modernen Fotografen bezeichnet hat, wohl auch wegen der eben beschriebenen Unvoreingenommenheit, die herkömmliche Regeln nicht fürchtet. Für die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts und das Entstehen des modernen Fotojournalismus sei Umbo als Protagonist unter vielen anderen genannt. Auch der Amateur Friedrich Seidenstücker zeichnete sich durch offenkundige Freude am Festhalten von urbanen Momenten aus. Daß diese Sichtweise fortlaufend in Berlin gepflegt wird, konnten in den neunziger Jahren mehrere ngbk-Ausstellungen belegen.

Andererseits hat die dokumentarische, topographische Stadtfotografie eine große Tradition in Berlin, von dazumal Georg Bartels oder Max Missmann bis heute zu Peter Thieme oder André Kirchner. Deren Arbeiten müssen wohl auch in den Köpfen unserer Fotografen spuken, denn dem Stadtraum wird viel Aufmerksamkeit gewidmet ­ die nüchternen Erkenntnisse und Bildfindungen gelangen dann vor allem auf die Seiten der Sanierungszeitung stadt.plan.mitte.

Damit sind wir beim Blatt selbst angelangt, und es sollte uns auffallen, daß der Zeitungsdruck den Fotografien eine spezielle ästhetische Prägung, einen eigenen Charme gibt. Die Zeitung gibt allen Bildautoren einen gemeinsamen Bildraum. Und Texte gibt es auch noch, möglicherweise der vordringliche Grund, die Zeitung zu machen. Wenn die Fotos nicht einfach deren Bebilderung sind, sondern Eigenständigkeit entwickeln konnten, dann ist das sicher auch den Redakteuren zu verdanken. Die haben es erreicht, daß Bilder im scheinschlag keine geduldete Begleitmelodie darstellen, sondern integraler Bestandteil der Gesamtkomposition sind. Die Fotografien paraphrasieren den Text. Das ist ein deutlicher Kontrast zur vorwiegend langweiligen Bebilderung sonstiger deutscher Presseerzeugnisse.

Nachdem die Fotografie schon mal Impulse aus Berlin erhielt, könnte es sein, daß die scheinschlag-Fotografie eine Erweiterung und Neu-Formulierung des alten Foto-Genres „Straßenfotografie" bietet. Es gibt Gerüche, die sagen einem sofort „Pariser Metro in den Siebzigern", und es gibt Bilder, die sagen „Berlin-Mitte, genau wie im scheinschlag" – dank den scheinschlag-Fotografinnen und -Fotografen, diesen Poeten des Zufälligen!

Hansgert Lambers

Fotos: Knut Hildebrandt

 
 
 
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