Ausgabe 03 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Paralleluniversum

Geld ist in der Nebenwelt unbeliebt ­ spielt aber eine große Rolle

Foto: Knut Hildebrandt

Viele beschreiben den RAW-Tempel als Werk von Paradiesvögeln vor der Kulisse romantischer Ruinen. RAW – das sind die Hallen des „Reichsbahnausbesserungswerks Franz Stenzer", 1994 geschlossen und von Schafgarbe überwuchert, 1998 von Selbstbestimmten rückerobert. Die Medien mögen sie, weil sie Bilder von Vitalem lieben, das aus morschen Mauern gedeiht. Sie wünschen viel Glück, wenn es Ärger mit dem Besitzer gibt. RAW – das ist für sie die „Küste", aufgeschütteter Sand vor dem „Stoff- und Gerätelager", ein paar Bänke und ein Café dazu. Ein „Paralleluniversum".

RAW – das ist ein blasser Typ mit gelber Brille. Er setzt „psychoaktive Moleküle in Musik" um, erzählt er. Das Wort „Energien" führt er ständig im Mund. Nicht alle hätten so viele Energien wie man braucht, sagt er. Er ist einer der ersten Stunde. Musiker und Elektriker. Vielen sei die Luft ausgegangen, erzählt er. Andere erzählen das auch. Sie haben hier mitrenoviert, waren tagelang verdreckt, was für ein unglaublicher Staub, brüchiges Holz und giftige Dämmwolle noch aus DDR-Zeiten. Die fliegt einem entgegen, wenn man das Dach machen will. Leute, die niemand begreift, der nicht in besetzten Häusern gelebt hat. Sie sind hier die Arbeiter. Viele haben geackert, haben sich irgendwann mit irgendwem verstritten, sind gegangen und haben jetzt einen Brast auf den Verein. So viel Zeit, kein Dank – und kein Geld.

Andere sind noch da und haben heute halbfertige Räume. Eine Traumstation unter anderem, Trance durch Trommeln und die „orbital-dolphins", Delphinklänge von Synthesizern aus der Urzeit. Sie sollen das Gehirn frei machen. Man weiß nicht, was das alles ist. Oder ob es je fertig wird. Und ob es wirklich entspannt. Andererseits beglückt die Lesebühne „Chaussee der Enthusiasten" ein schlichtes Publikum mit leichten Kalauern. Die kennt man auch in Mitte, und die Zeitung schreibt darüber. Und die Akrobaten „Verein zur Überwindung der Schwerkraft" liebt das Publikum. Das ist auch das RAW. Doch das alte Werk ist ein weites Gelände, alles verläuft sich. Parallelwelten existieren hier wirklich. Während vor den Backsteinhallen sich dem Gast Gerümpel gewordener Charme des Chaos offenbart, sieht das RAW im Netz bereits aus wie eine junge Firma. Die mit dem Produkt „Kreativität" wirbt.

Das RAW ist nicht Fisch und nicht Fleisch. Was aussieht wie Hausbesetzerstil ist keiner. Von Beginn an wollte man darüber hinaus. Als die ersten Pioniere auf das Gelände gingen, war die Zeit der Besetzungen längst vorbei. Der Boden gehörte der Bahn, Verwalter war der Bezirk. Man wurde Zwischennutzer einer Brache – wie damals üblich. Eine Ex-Hausbesetzerin, Bibiena Houwer aus Amsterdam, hatte die Hosen an. Sie wollte gleich Nägel mit Köpfen machen. Keine Besetzerallüren, keine Visionen, Freiraum mit Gewalt zu erkämpfen. Stattdessen Kooperation mit öffentlichen Partnern, ein Konzept und klare Ansagen. Letztere bestanden darin, daß Kreative sich bewerben und ihre Räume selbst renovieren sollten. Darüber hinaus: Pflicht zu gemeinsamen Subbotniks. Was entstehen sollte? Nicht weniger als ein Paralleluniversum. Houwer nannte es tatsächlich so. Sie war energiegeladen, straight und ehrgeizig, war nach einigen Jahren mit den Nerven herunter und hatte jede Menge Leute vergrätzt. Es gab beim RAW-Tempel immer verschiedene Sorten von Menschen: Führungskräfte, Kreative, Arbeiter und Gestrandete. Immer gab es Leute, die sich ungerecht behandelt fühlten. Was nicht heißt, daß die kleinen Leute unbedingt immer im Recht sind, wie nirgendwo eben. Und manche derer, die hier herumwerkeln, dürften draußen nicht ohne weiteres zurechtkommen. Dirk, der Musiker und Elektriker benennt es so: „Wir können im regulären System nicht leben. Deshalb entwickeln wir unser eigenes." Er findet es völlig okay, daß, wer Leitungen verlegen kann, Leitungen verlegt, und wer mit Politikern verhandeln kann, mit Politikern verhandelt. Dennoch: Probleme auf dem RAW waren immer – Arbeit, Geld, Mitbestimmung. „Geld spielt eine wichtige Rolle", sagt Dirk. „Es ist in der normalen Welt das Äquivalent zu Energie."

„Über Geld zu reden, ist bei uns ein unbeliebtes Thema. Das Wort hat hier einen komischen Beigeschmack", sagt Andreas, der beim RAW eine vom Arbeitsamt geförderte Stelle hat. Ebenso ist Professionalität etwas, das der Verein RAW-Tempel zwar zunehmend anstrebt und auch vorweisen muß. Doch Einigkeit herrscht keineswegs darüber, ob Professionalität ein guter Begriff sei. Doch der RAW muß und wird sich professionalisieren. 2002 kam ein neuer Vorstand, Mirko Assatzk, ein ehemaliger NVA-Berufssoldat. Er beantragte im vorigen Jahr EU-Gelder – und bekam sie. 400000 Euro flossen, um das „Stoff- und Gerätelager" zu sanieren und das Paralleluniversum zum Gründerzentrum zu machen. Im Zuge dessen gab es einen Mietvertrag und das Versprechen, drei andere Häuser mieten zu dürfen. Der Schritt hat weitreichende Folgen: Viele werden die Mieten nicht zahlen können, obwohl sie vergleichsweise günstig sind.

„Eine Liebesheirat war es nicht", sagt Frauke Hehl dazu, „doch es war notwendig". Frauke ist eine Frau, die von der ersten Stunde an dabei ist, die klug ist und meistens weiß, worauf sie sich einläßt. Der Besitzer, die Vivico, wollte den Verein längst vom Gelände schmeißen. Auch das Bezirksamt, das sich noch immer schützend vor das „Soziokulturelle Zentrum" gestellt hatte, forderte Konzepte.

Doch die Professionalisierung könne auch Chancen bieten, sagt ein Sprecher des RAW, Holger Wegemann, angesprochen auf die Kritik derer, die unentgeltlich Kraft investiert haben, um später das schaukelnde Schiff zu verlassen. Man könne Sicherheiten bieten und Verbindlichkeit. Er sitzt vor dem Fenster seines Büros im „Wohnhaus für Beamte und Angestellte" auf dem RAW. Dahinter erstrecken sich die Hallen, die Küste, der Strand. Dort sitzt Dirk. Er meint: „Das Paralleluniversum wird sich nicht halten lassen."

Tina Veihelmann

 
 
 
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