Ausgabe 03 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

ditte & menschenkind: Latz-Arkadien

Soso, Herbstlieder also, murmelt Menschenkind, nun will der Lenz uns grüßen! In Zeiten des eifernden Reformismus und der allgemeinen Innovationshysterie vielleicht passend, Herbstlieder im Frühling! „Ja, wann denn und wo?" ruft Menschenkind in die Sprechmuschel. „Fängt schon 17 Uhr an", hört er Ditte durch die Hörmuschel rufen, „bei den Finnen, du weißt schon! Bis Potsdamer Platz, und dann..." „Nee... nee, nee", stöhnt Menschenkind, „können wir uns nicht auf neutralem Boden treffen?" „Na gut, Alex? 16 Uhr. Aber pünktlich!!!"

Hier bin ich Raucher, hier darf ich sein, fieselt Menschenkind vor sich hin und denkt ein bißchen an Goethe, als er verstört das No-Smoking-Areal der Deutschen Bahn AG hinter sich gelassen hat, das öffentliche Straßenland betritt, einen wehen Blick zum Fernsehturm wirft und bereits eine halbe Stunde auf Ditte wartet. Vielleicht hat sie mich auf den Arm genommen, denkt der Bestellte und nicht Abgeholte, der sie lieber in den Arm genommen hätte, spätestens jetzt, um 16.30 Uhr am vereinbarten Stellplatz. Vielleicht ist sie gleich zu den Skandinaviern gegangen!

Runter zur U-Bahn, U-Bahn fährt nicht. An der SEV-Haltestelle sieht er erschüttert, wie gerade ein halbleeres Schienenersatzverkehrsmittel, so ein blöder Bus, entschwindet.

Scheiße! Nur noch 16 Minuten bis 17 Uhr! Rein in den nächsten Bus, raus aus dem und rein in die U-Bahn. Noch zehn Minuten bis Buffalo, zwei Stationen bis Potsdamer Platz! Aber dann, wie weiter? Er steht irgendwo an, auf, hinter, in, neben, über, unter, vor und zwischen dem Potsdamer Platz, der sich hier Daimler-City nennt. Krakeelende Kindergruppen aus Castrop-Rauxel und Birkenwerder bei Berlin tummeln sich, Franko-Kanadier und Anglo-Amerikaner, aber kein Herbstlieder liebender Finne, nirgends. Keiner weiß, wo die Skandinavier sitzen. Ihn fröstelt, und er kommt sich fremd vor wie ein Obdachloser in einer Eigenheimsiedlung.

Verdammt noch mal, es stünde dieser urbanitären Gewolltheit bzw. diesem klotzigen Aufbauturmwirken in Verwertungserwartung eines attraktiven Leerstands hochwertiger Büroflächen nicht schlecht an, wenn es hier einen Fremdenverkehrsverein gäbe oder eine Informationsstelle für Touristen aus fremden Stadtgebieten. Da steht die Konzernzentrale der Deutschen Bahn AG, und das ist das Sony-Zentrum, aber wie kommt man von hier aus und zu Fuß zur Botschaft der Republik Finnland eventuell? Oder meinetwegen auch nach Norwegen...

Dort drüben sieht er etwas wie eine Tempelanlage prangen, ein modernes Walhalla, Stonehenge oder ein temporäres Mausoleum. Es sind die Eingänge zur S-Bahn. Da gibt es doch oft so Stadtpläne an der Wand, man könnte sich orientieren... Erleuchtet schreitet Menschenkind die Freitreppe zur Unterwelt hinab; landet in einer sehr großen zugigen Leere. Von S-Bahn keine Spur, nur wenige vereinzelte und offenbar ebenfalls orientierungslose Passanten irren umher, aber was ist das dort in der Ecke: eine gläserne hell erleuchtete Tür. Dort könnten Menschen sein! Vielleicht sogar auskunftswillige Mormonen oder Mormessen, Monitore und Tessen! Momanizer als Wegweiser!

Latz-Arkaden liest er noch, der Genasführte, und schon hat ihn der Moloch verschlungen, und er findet sich inmitten aufgekratzter Halbwüchsiger und aufgetakelter SeniorInnen wieder, die Versace oder Gucci gucken. Oder so. Am liebsten ginge Menschenkind ins Wasser der Läufe, die ihm draußen dann als Natur erscheinen, als er endlich dem Konsumtempel entronnen ist ­ und einfach war das nicht! Was er einen Ausgang wähnte, war ein neuer Ladeneingang und so weiter... Tausend Seen scheinen ihn zu hindern, diese Rinn- und Scheusale hier. Ein neues Labyrinth tut sich auf, wo er einen Weg sah. Wegsehn, weggehn, bevor es zu spät ist. Menschenkind würde sich sogar hier ehrenamtlich und freiwillig am selektiven Rückbau von Gebäudeteilen beteiligen, wenn man ihn fragte. Aber ihn fragt ja keiner. Bunt sind schon die Wälder, singt es in ihm, als er an dem Reisebüro vorbeischrammt, das einen Billigflug nach Helsinki anbietet.

Ihr bescheuerten Herbstlieder, haut doch ab! Lieber Frühling, komm doch wieder. Aber bitte mit Ditte!

Dieter Kerschek / Brigitte Struzyk

 
 
 
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