Ausgabe 03 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Lobby für eine halbe Million

Berliner und Brandenburger Migranten gehen gemeinsam in die Politik

Illustration: Katharina Greve

In Berlin hat sich ein neuer Lobbyverband gegründet. Er vertritt ca. ein Siebtel der Bevölkerung: 440000 Migranten. Fast eine halbe Million Menschen in einer 3,5-Millionenstadt ist eine beachtliche Größe, eine, die eigentlich längst eine politische Lobby benötigt hätte.

Doch das Naheliegende ist schwer zu machen. Denn „Migranten" sind schließlich Zuwanderer aus Südamerika, Afrika oder Asien ebenso wie aus den nächsten Nachbarländern Tschechien oder Polen. Die Migranten eint nur der nicht unwesentliche Umstand, von in Deutschland erlassenen Zuwanderungsgesetzen abzuhängen. Und sich in Regelsystemen zu bewegen, die auf fremde Bedürfnisse zugeschnitten sind. Der Religionsunterricht in Schulen etwa. Oder der Geschichtsunterricht, für den Historie selten in Afrika spielt.

Der Verband, der sich „Migrationsrat Berlin-Brandenburg" nennt, will pragmatisch Politik beeinflussen. Damit Kinder von Deutschen und Migranten an Berliner Schulen endlich gleichermaßen eine brauchbare Ausbildung erhalten, zum Beispiel. Der Lobbyverband wird so stark und so erfolgreich sein, wie es ihm gelingt, praktische und diskutierbare Vorschläge vorzulegen und möglichst Interessen zu bündeln. „Fragen wie die Kopftuchdebatte auszudiskutieren, hindert", sagt Mounir Hussein, ein Vorstandsmitglied. Es wird nicht möglich sein, in allen Kontroversen übereinzukommen. Stattdessen wolle man lieber zügig zu Themen Position beziehen, auf die man sich einigen könne. Das seien noch immer genügend, und sie seien brisant genug.

56 Migrantenvereine sind bisher Mitglieder des Verbandes. Weitere sind ausdrücklich erwünscht. Bewußt haben die Gründer keine Quotierungen nach Herkunftsländern vorgegeben. Wichtig sei nicht, in der politischen Lobby die Interessen speziell einer ethnischen Community in Berlin zu vertreten. Erst gar nicht soll eine heimliche Vertretung irgendeines Landes in Berlin entstehen. Die Gründer haben versucht, die bizarre Debatte, welche Minderheit in Berlin die wichtigste sei oder gar welche Kultur nun mehr oder weniger Rechte haben solle, bereits im Vorfeld auszuschließen. Es wurde eine Zugangsklausel festgelegt: Wer „herkunftsbezogene Politik" betreiben will, hat keinen Zutritt zum Klub. Auf ähnliche Weise haben die Gründer versucht, einige weitere grundsätzliche Verabredungen von vornherein zu treffen: Wer in den Verband eintritt, soll sich unter anderem zu demokratischen Grundwerten bekennen und zur Trennung von Staat und Religion. Der Verband ist überparteilich, frauenfeindliche und antisemitische Positionen sollen ausgeschlossen sein. Selbstverständlich ist es unmöglich, beitretende Mitglieder erst mit einem Lügendetektor zu testen, ob sie tatsächlich in Fragen von Sittlichkeit, Humanität und demokratischer Haltung das geforderte hohe Level erfüllen. Doch allein das Vorhandensein eines Türstehers soll ja bereits eine Wirkung haben.

Die Frage nach den „Fundamentalisten" ist eine der ersten, die deutsche Journalisten stellen, wenn sie die Sprecher des Migrationsrates befragen. Und ob man sich denn habe einigen können ­ all die Islamisten, Kurden oder Aleviten. Und ob denn die Ausländer untereinander tolerant seien? An die Toleranz der Ausländer stellen die Deutschen hohe Ansprüche. Skurrile Ergebnisse zeitigt dies, wenn in deutschen Zeitungen Mitglieder der neuen Migrantenlobby beteuern, sich nun gegenseitig ständig zu ihren Festen einzuladen. Oder daß manch ein Berliner Palästinenser nun zum ersten Mal in seinem Leben die Erfahrung mache, einem leibhaftigen Juden zu begegnen. Was dann auch zu keiner Katastrophe führte.

Doch Mounir Hussein beantwortet die Fragen nach „Fundamentalismus" und der Fähigkeit zur Toleranz geduldig. Ob das Mißtrauen nervt? Es nerve schon ein bißchen, sagt er, „ist aber legitim". Schließlich seien ja schon viele Versuche zu einer gemeinsamen Lobby an solchen Klippen gescheitert. Er will jedoch nicht über Kopftuch oder Islam reden, sondern lieber darüber, was in Berlin gemeinsame Themen von Zuwanderern sein könnten: Nicht nur bei der Vorbereitung des deutschen Zuwanderungsgesetzes will der Verband sich einmischen, auch beim Antidiskriminierungsgesetz. Wie schon erwähnt, wird Bildungspolitik ein wichtiges Feld werden. Entschieden vorgehen will der Verband gegen die Praxis, Arbeitsmigranten mit immer weiter verlängerten Duldungen in Situationen ständiger Unsicherheit zu halten. Doch nicht allein Anti-Politik wollen die Lobbyisten betreiben. Sie planen auch, Studien in Auftrag zu geben und konstruktive Gegenentwürfe zu erarbeiten. Dies können einzelne kleine Migrantenvereine nicht leisten. Es bedarf einer größeren Organisation.

Bislang sind es ungefähr 100 Vertreter von Migrantenvereinen, die gemeinsam agieren wollen. Die Initiative kam von den Vereinen selbst, unter anderem vom Vietnamverein und dem Polnischen Sozialrat. Sprecher sind der Afrikaner Moctar Kamara, der elf afrikanische Vereine vertritt, Eran Ünsal vom Türkischen Bund und Mounir Hussein von „Al-Tadamun". Ob sich die Vorschläge und Initiativen des Migrationsrates in die Praxis umsetzen lassen ­ und nicht zuletzt, inwieweit die hiesige Politik ihm entgegenkommen wird ­, wird sich zeigen.

Tina Veihelmann

 
 
 
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