Ausgabe 02 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Die unwahrscheinlichen Orte

Boris Grésillons Betrachtungen über den Berliner kulturellen Ausnahmezustand

Noch ein Buch über die „Kultur-Metropole" Berlin? Ein weiteres Werk in der Flut der so oft nur noch überflüssigen oder belanglosen Berlin-Bücher? So könnte der erste Gedanke sein, wenn man das Buch von Boris Grésillon in Händen hält.

Was aber ist das Anliegen dieses Buches? Es handelt sich um den Versuch, Kultur und die Orte ihrer Entstehung in Berlin zu erfassen, diese zu beschreiben und am Ende ein Gesamtbild der Stadt zu zeichnen, sie im europäischen Vergleich einzuordnen. Dabei versucht der Autor „Kultur in allen ihren Räumen" zu sehen und sich nicht auf repräsentative Kultureinrichtungen zu beschränken. Grésillon schließt nicht allein die Kulturprojekte der Off- und Alternativkultur ein, sondern läßt auch die oft nur am Rande wahrgenommenen Kulturszenen der Homosexuellen, der türkischen Migranten oder die der Parties in versteckten, unzugänglichen Hinterhöfen oder Kellern – „die Kultur der unwahrscheinlichen Orte" – nicht aus. Und das Ganze aus der Sicht eines nur wenige Jahre in Berlin lebenden Franzosen? Ein schlicht unmögliches Unterfangen, wie der Autor am Ende selbst einsieht. Es hätte ein Buch von tausenden Seiten sein müssen, um sich dem Thema doch wieder nur nähern zu können. Aber Grésillon ist bei seinem Versuch dennoch etwas gelungen, das lesenswert, interessant und wahrscheinlich bisher in dieser Art einzigartig ist.

Grésillon, der zur seltenen Spezies der Kulturgeographen gehört, behandelt die Beziehung von Kultur und Raum auf 300 Seiten in essayistischer Weise. Die Entstehung eines Essays scheint dabei ein wenig ungewollt, denn Grésillons Anspruch ist ein wissenschaftlicher, wie gerade im ersten Teil, bei der Definition von Kultur, deutlich wird. Im Hauptteil wird der Stil essayistisch, eher subjektiv und angenehm lesbar. Die Verwendung von Karten andererseits („Wandernde Kulturorte", Seite 200!) und sogar von Statistiken hebt die Beschreibung von rein persönlichen Statements zu Berlin und Kultur ab.

Grésillon schlägt inhaltlich einen weiten Bogen von der kulturellen Situation im Berlin der Gründerzeit bis hin zur Periode des Kalten Krieges, unterteilt in West- und Ostberlin. Den eigentlichen Schwerpunkt bildet die Umbruchszeit Anfang der Neunziger bis zur heutigen „kulturellen Ausnahmesituation" Berlins. Mit der Beschreibung und Analyse der Zeit nach der Wiedervereinigung begibt sich Grésillon auf schwieriges Terrain, behandelt die Frage von Ost- und Westidentität am Beispiel von Theatern anhand ihrer Mitarbeiter und Besucher. Alles in allem erscheint das für ein Buch zu gewaltig ­ aber nicht auch notwendig, wenn man der Frage von Kultur in Berlin nachgeht?

Dem Anspruch auf Vollständigkeit können die einzelnen Kapitel sicherlich nicht immer genügen, weisen vielleicht einige für Spezialisten zu große Lücken auf. Grésillon ist dieses Risiko eingegangen, um am Ende zu einem Gesamtbild zu kommen: Im letzten Teil des Buches stellt er die Frage, ob Berlin als Kulturmetropole ­ eine Stadt mit multikultureller, internationaler Ausstrahlung ­ gelten kann. Gerade hier wird eines besonders deutlich: Es ist das Buch eines Franzosen, eines Ausländers mit einer anderen Sichtweise auf Berlin. Grésillon ist etwa erstaunt, daß die „kulturelle Ausnahmesituation Berlins" in Deutschland vor allem kontrovers betrachtet wird und Berlin als „Kulturmetropole im Ausland mehr Anerkennung genießt als in Deutschland" ­ und zitiert als Beleg Persönlichkeiten aus der Pariser Kulturwelt. Für Grésillon steht Berlin aber auch für das andere Modell einer Kulturstadt, einem zentralistischen „Gegen-Modell" zum föderalen „rheinischen Modell": „Gegen-Modell in Deutschland, Brennpunkt in Europa, das sind die Facetten des Berliner Sonderwegs."

Das Buch mit den vielen Literaturhinweisen von französischen Autoren ist eine aktualisierte Übersetzung des vor zwei Jahren erschienenen französischen Originals (Berlin. Métropole Culturelle). Offensichtlich war Grésillons Buch nicht unbedingt für den deutschen Buchmarkt vorgesehen, aber gut, daß es jetzt da ist.

Dirk Hagen

> Boris Grésillon: Kulturmetropole Berlin. Berliner Wissenschafts-Verlag, 2004. 24,80 Euro

Foto: Jenny Wolf

 
 
 
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