Ausgabe 02 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1904

26. Februar bis 31. März

Die Hauptverhandlung gegen den Mörder der Witwe Auguste Budwig, den Kellner Adolf Leszczynski, der sich auch unter dem Namen Abraham und Izaak Weber in Berlin eingeführt hatte, findet am Mittwoch, dem 2. März vor der Strafbehörde in Kalisch (Russisch-Polen) statt. Die Bluttat, deren der Angeklagte überführt ist, dürfte noch in aller Erinnerung sein: Am Mittwoch, 17. Dezember 1902, wurde zur Mittagszeit die am 19. Juli 1842 in Konin bei Kalisch in Russisch-Polen geborene Witwe Auguste Budwig, geborene Leszczynska, in ihrer Wohnung Rosenthaler Straße 16-17 tot aufgefunden. Mittels einer drei Pfund schweren Schraube hatte der Mörder sein Opfer durch Schläge in die rechte Schläfe bewußtlos gemacht und dann getötet. Darauf hat der Täter etwas Bargeld, eine goldene Uhr und Kette, zwei silberne Leuchter und ein kleines Paket alter Schmucksachen der Ermordeten an sich genommen und war aus Berlin geflohen.

Die Tat selbst war bereits am Sonntag vorher, dem 14. Dezember, verübt worden. Die kriminalpolizeilichen Ermittlungen ergaben noch am Tag der Auffindung der Leiche, daß der Mörder in dem Neffen der Frau Budwig, dem am 1. Dezember 1902 aus London nach Berlin zugereisten Kellner Adolf Leszczynski zu suchen wäre. Leszczynski, der am 10. Januar 1875 ebenfalls zu Konin geboren ist, hatte sich, nachdem sein Vater frühzeitig in Amerika verstorben war, viel in der Welt herumgetrieben, allerlei Schwindeleien in Holland, England und Frankreich verübt, war später in Deutschland, und zwar in Uelzen, wegen Einbruchdiebstahls zu 11_2 Jahren Zuchthaus verurteilt worden und soll sich dann in London eines Kapitalverbrechens schuldig gemacht haben, dessen Aufklärung bis jetzt nicht recht gelungen ist.

In Berlin hatte sich Leszczynski in der Fremdenherberge bei Jacobsohn in der Linienstraße 21 am 1. Dezember 1902 einquartiert und alsbald seine Nachforschungen nach dem Leben, den Gewohnheiten und dem Vermögen seiner vereinsamt wohnenden Tante aufgenommen, die von einem kleinen Handel und den Unterstützungen ihrer Verwandten lebte. Leszczynski äußerte vor der Tat wiederholt, er fürchte, daß das mutmaßlich große Vermögen der Frau Budwig deren reicher Schwester Anastasia zu Konin zufallen würde. Er besuchte seine Tante am genannten Sonntag in dem Augenblick, als sie in einem Brief an die Tochter eben dieser Schwester gerade auf den bevorstehenden Besuch ihres Neffen Adolf hinwies. Dieser am Tatort aufgefundene Brief gab den Schlüssel für die Ermittlung des Täters.

Leszczynski hatte dort eine von ihm dem Handelsmann Jaffe gestohlene Ausweiskarte liegenlassen, in der offenbaren Absicht, die Polizei auf eine falsche Spur zu locken. Aber schon am 21. Dezember wurde Leszczynski auf russischem Boden bei Kalisch mit Hilfe des Handelsmannes Watzki festgenommen und durch die in Ostrow verpfändete Uhr und Kette der Ermordeten der Tat überführt.

Da der Mörder seine russische Staatsangehörigkeit nicht verloren hat, findet seine Aburteilung vor der russischen Justizbehörde, die ihn in Haft nahm, statt. Zu der Verhandlung sind allein aus Berlin 26 Zeugen, darunter Kriminalinspektor Braun, die Kommissare Kähler und Weiß, die bei der Ermittlung tätig waren, ferner Verwandte des Mörders, Besitzer und Angestellte von hiesigen Gastwirtschaften nach Kalisch geladen. Wie viele von diesen Zeugen jedoch der Aufforderung Folge leisten werden, steht dahin, da die russische Behörde an Zeugengebühren nicht mehr als bare 25 Kopeken pro Kopf und Tag zugestehen will, das sind etwa 60 Pfennig.

In der Versammlung des Vereins Berliner Kolonialwarenhändler wird folgende Resolution einstimmig angenommen:
„Der Verein Berliner Kolonialwarenhändler erklärt auf den gemeinsamen Erlaß der preußischen Minister des Innern, des Handels und des Kultus, der sich gegen den Flaschenbierhandel richtet, daß hierorts von einer schädlichen Wirkung des Flaschenbierhandels nichts bemerkt worden ist und daß derselbe das Familienleben gefördert und den Schnapskonsum vermindert hat. Der Verein hofft deshalb, daß die Regierung von jeder Beengung des Flaschenbierhandels absehen werde."

Falko Hennig

 
 
 
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