Ausgabe 02 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Danke für die Klarheit, Herr Tantawi

Scheich der Azhar äußerte sich zum Verschleierungsgebot in nichtmuslimischen Ländern


Foto: Knut Hildebrandt

Ende Dezember 2003 hat der Scheich der Azhar, Muhammad Sayyid Tantawi, gegenüber dem französischen Außenminister verlauten lassen: „Wenn eine muslimische Frau in einem nichtmuslimischen Land, wie etwa Frankreich, ist und die dortigen Verantwortlichen wollen ein Gesetz verabschieden, das im Widerspruch zur Frage der Verschleierung von muslimischen Frauen steht, dann ist es deren Recht, und ich als Muslim darf mich nicht einmischen." Und weiter: „Muslimische Frauen sind dazu verpflichtet, die Gesetze des nichtmuslimischen Landes zu befolgen, denn sie sind in diesem Fall gesetzlich dazu gezwungen. Ebenso erlaube ich Nichtmuslimen nicht, sich in meine muslimischen Angelegenheiten einzumischen, wie ich mir auch nicht erlaube, mich in die Angelegenheiten der anderen einzumischen."

Der Scheich der Azhar stellt die höchste Lehrautorität in religiösen Fragen des sunnitischen Islams dar. Er ist oberster Imam der Azhar-Universität und damit religiöses Oberhaupt dieses weltweit bedeutendsten Ausbildungszentrums für den größten Teil der Muslime. Gleichzeitig ist er Vorsitzender der Akademie der islamischen Wissenschaften, einem 50köpfigen Gremium, das 1961 zur Klärung, Erneuerung und Weiterverbreitung der sunnitischen Glaubensinhalte geschaffen wurde und die Reinigung des Glaubens von politisch extremistischen Inhalten zum Ziel hat. Tantawi war es, der die Anschläge in Washington und New York 2001 auf das Schärfste verurteilte. Widerspruch aus den eigenen Reihen gab es damals nicht ­ jedoch dieses Mal, auch von Mitgliedern aus der Akademie, die erklärten, Tantawi habe nur seine persönliche Meinung zum Ausdruck gebracht. Tantawis Äußerungen, mehr noch das französische Verbot, haben in Ägypten zu einer heftigen Protestwelle geführt.

Die Position des Scheichs der Azhar ist sinngemäß folgende: Keine Einmischung in den gesetzgebenden Prozeß in einem anderen Land. Im Ausland lebende Muslime sollen der lokalen Gesetzgebung Folge leisten. Die Verschleierung ist für Musliminnen eine religiöse Pflicht Gott gegenüber (fard ilahi). Nach Tantawi müssen sich Musliminnen damit am Tag des Gerichts vor Gott für ihr Handeln verantworten. Die persönliche Entscheidung gegen die Verschleierung ist für die einzelne Frau mit Verweis auf die örtliche Rechtsprechung zu rechtfertigen.

Hijab, das arabische Wort für Verschleierung, ist insofern unübersetzbar, als es die Institution der Verschleierung und den Schleier selbst meint. Der Hijab trennt in Form eines Schleiers das Leben vom Tod, er trennt am Tag des Gerichtes die Gläubigen von den Ungläubigen, die Sonne verschwindet hinter dem Hijab der Nacht. Die Sitte des Hijab in bezug auf Frauen war eine Tradition, die im städtischen Milieu der arabischen Halbinsel schon vor der Verkündigung des Islams bestand: Frauen von Stand trugen einen Schleier oder man sprach zu ihnen durch einen Vorhang (sitr, auf Türkisch tesettür), ein solcher Vorhang verwehrte später auch dem Hof den Blick auf das Trinkgelage des Kalifen. Von Aisha, einer der Ehefrauen des Propheten, heißt es, sie habe den Hijab seit ihrer Heirat praktiziert. Die Prophetenwitwen wurden später auf Anraten des Kalifen Umars dem Hijab unterzogen, von welchen er als Pflicht auf alle freien Musliminnen überging.

Der Sitte wurde in Medina zunächst kaum Folge geleistet. Sie breitete sich zusammen mit den Eroberungen und der Verstädterung der arabischen muslimischen Bevölkerung aus und war ein wichtiger Faktor bei der Begründung, Frauen zunehmend vom öffentlichen Leben der Städte abzuschotten und die Regeln für den häuslichen Frauenbereich immer strikter werden zu lassen. Hijab wurde in Form von Schleiern, Masken und vollständigen Überhängen gehandhabt. Mit der Einrichtung von Mädchenschulen Ende des 19. Jahrhunderts kam es dann zu ersten Entschleierungen. Der Ägpyter Qasim Amin erkannte unter Berufung auf den liberalen Theologen Muhammad Abduh, daß der Hijab für die Bildung der Frauen ein Hindernis ist. Er betonte, daß es juristisch betrachtet keinen Text gibt, der die Verschleierung in der damals üblichen Form rechtfertigt, forderte allerdings nicht deren vollständige Aufhebung. Trotzdem ging ein Schock durch die ägyptische Gesellschaft, eine weitere Radikalisierung der Positionen folgte.

1925 entstand die ägyptische feministische Bewegung, deren Vorsitzende 1926 offiziell ihren Gesichtsschleier abnahm, was ihr viele andere muslimische Frauen nachtaten. Ihr Zugang zum Bildungswesen hat sich seitdem in vielen Staaten verbessert, ist aber keineswegs optimal. Wenn Tantawi Musliminnen in nichtmuslimischen Staaten rät, sich für ihre Ausbildung und gegen die Verschleierung zu entscheiden, dann handelt es sich um eine pragmatische Entscheidung zugunsten der Ausbildung von muslimischen Frauen in einem laizistischen Land, ohne daß die Hijabpflicht aus seiner Sicht damit in Frage gestellt wäre.

Im Lehrkörper der Azhar-Universität und der Akademie, ganz zu schweigen von der öffentlichen Meinung, besteht darüber weiterhin Uneinigkeit. Es ist umstritten, ob Hijab eine Pflicht gemäß der überlieferten Glaubenskonvention oder des islamischen Glaubens ist und wie heute der Hijab-Pflicht angemessen nachzukommen sei.

Tantawi hat angekündigt, daß die Akademie der islamischen Wissenschaften eine umfassende Stellungnahme zu diesem Thema veröffentlichen wird. Zu hoffen bleibt, daß sie dabei die weit kompliziertere Frage nach der Situation von muslimischen Lehrerinnen an deutschen Schulen einbezieht. Aus der Aussage Tantawis läßt sich für diese Entscheidungsfindung zunächst schließen: Sollte die Verschleierung durch staatliche deutsche Stellen verboten werden, dann sollten sich die Betroffenen notgedrungen daran halten. Bei dem Erlaß eines Verbotes ist zu berücksichtigen, daß die Ver- oder Entschleierung für Musliminnen in jedem Fall eine Gewissensentscheidung darstellt.

Katja Brinkmann

 
 
 
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