Ausgabe 01 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Verblaßter Fortschritt

Zu Besuch im bewohnten Freiluftmuseum Siemensstadt

Wer nie bei Siemens-Schuckert war, bei AEG und Borsig, der kennt des Lebens Jammer nicht, der hat ihn erst noch vor sich. (Arbeiterweisheit)

Um ihren Arbeitsplatz im am 1. August 1899 in Betrieb genommenen Siemens-Kabelwerk auf den Nonnenwiesen an der Unterspree zu erreichen, mußten die Arbeiter in den ersten Jahren erhebliche Mühen auf sich nehmen. Von Charlottenburg kommend erreichte man das neue Werk nur über die S-Bahnhöfe Jungfernheide und Westend mit anschließendem beschwerlichem Fußmarsch über den kaum ausgebauten Nonnendamm oder über den Fürstenbrunner Weg zur Spree, die man dann mit einer Fähre überquerte. Von Spandau aus konnte man ab 1903 wenigstens mit einem Dampfer direkt vor das Werkstor schippern. Siemens hatte sein neues Werk, wegen ständiger Raumnot an seinen anderen Standorten, am Arsch der Welt, auf einer zu Spandau gehörenden Exklave, errichtet. Aber hier war Platz.

Allerdings hatte die benachbarte Stadt Charlottenburg andere Pläne. Die Stadtväter der damals reichsten Stadt Preußens gedachten, hier ihresgleichen anzusiedeln. Eine Industrieansiedlung samt unvermeidlicher Arbeiterbehausungen konnten sie dafür überhaupt nicht gebrauchen. Deshalb sabotierte Charlottenburg ­ so gut es ging, aber erfolglos ­ alle Siemensschen Planungen. Als Siemens 1905 ohne behördliche Genehmigung die Rohrdammbrücke bauen wollte und auf dem Nordufer der Spree bereits mit der Vormontage einer Brückenkonstruktion begann, stellte Charlottenburg einen Wachposten auf, der verhindern sollte, daß die Brücke am anderen Ufer befestigt wird. Der Wächter ließ sich aber von einem Siemens-Agenten zu einem Besäufnis im Spandauer Ratskeller verführen, weshalb die Brücke in einer Nacht-und-Nebel-Aktion dann doch über die Spree geschlagen werden konnte.

Siemens
Foto: Jenny Wolf

Auch den Bau einer Wohnsiedlung konnte Charlottenburg nur verzögern. Die ersten Wohnungen in der „Kolonie am Nonnendamm" zwischen dem heutigen Wernerwerkdamm und der Nonnendammallee waren am 1. April 1905 in der Ohmstraße bezugsfertig. „Alt-Siemensstadt" gehört heute aber zu den wenigen Teilen der Siemensstadt, die nicht unter Denkmalschutz stehen. Schützenswerter als die Gebäude sind hier eindeutig die beiden ältesten Wirtshäuser des Stadtteils, die beide an der Nonnendammallee liegen und auch heute noch gut besucht sind: die Arbeiterkneipe „Zur Quelle" an der Ecke Quellweg und am Rohrdamm das eher von den Siemens-„Beamten" besuchte „Stammhaus", das ursprünglich „Casino Nonnendamm" hieß und nach dem Zweiten Weltkrieg umbenannt wurde, um die Verbundenheit mit dem Konzern zu dokumentieren. Dessen Hauptverwaltung lag bis in die sechziger Jahre schräg gegenüber, bevor sie, wie vorher bereits große Teile der Produktion, nach Bayern verlegt wurde.

Das „Haus Siemens" legte schon immer größten Wert auf eine besondere Identifikation seiner „Siemens-Indianer" mit der Firma. Um diesen „Korpsgeist", wie es Firmengründer Werner von Siemens in seinen Lebenserinnerungen ausdrückte, zu erreichen, richtete das Unternehmen bereits vor dem Umzug nach Siemensstadt Pensionskassen ein, die jedes Mitglied der „Siemens-Familie" im Alter unterstützt. Die Pension erhält allerdings nur, wer es lange genug ununterbrochen im Unternehmen aushält, wobei ein Streik als Unterbrechung gewertet wird. Deshalb, und weil außertarifliche Vergütungen gerne in Aktien ausgezahlt wurden, war die Streiklust bei Siemens immer schon deutlich weniger ausgeprägt als in anderen Betrieben, und wenn es doch mal dazu kam, sperrte man kurzerhand die ganze „Familie" aus.

Die wird ohnehin seit langem kleiner: Im Zweiten Weltkrieg, als die Rüstungsproduktion auf Hochtouren lief, arbeiteten in Siemensstadt 67000 Menschen, davon etwa 30 Prozent Zwangsarbeiter, nach dem Krieg waren es nie mehr als 30000 und heute sind es noch 12000, wovon weniger als die Hälfte in der Produktion beschäftigt ist. Siemensstadt ist aber weiterhin Siemens' größter Produktionsstandort ­ und Berlins sowieso.

Wenn man das angrenzende Charlottenburg-Nord nicht mitzählt, leben in Siemensstadt etwas mehr Menschen, als in den Werken arbeiten. Es muß hier also Ecken geben, in denen sich auch Firmenfremde tummeln dürfen. Eine davon ist die von 1929 bis 1931 nach einem städtebaulichen Konzept von Martin Wagner und Hans Scharoun erbaute „Großsiedlung Siemensstadt", die gleich hinter dem heute etwas verwaisten Einkaufszentrum beginnt. Die Siedlung galt lange Zeit weltweit als Maßstab moderner Baukultur. Neben denen Scharouns, der von 1930 bis 1960 im nach seinen Plänen erbauten „Panzerkreuzer" am Jungfernheideweg 4 wohnte, finden sich hier Bauten nach Entwürfen von Walter Gropius, Hugo Häring, Otto Bartning, Alfred Forbat und Paul Rudolf Henning. Obwohl die Siedlung heute etwas vernachlässigt wirkt, lohnt sich ein Besuch der Siemensstadt nicht nur wegen seiner Gaststätten oder für aussichtslose Vorstellungsgespräche.

Nördlich der stillgelegten „Siemensbahn", begrenzt durch Häuser, die man an verschiedenen Stellen, wie am Quellweg, torbogenartig über die Straße gebaut hat, durften früher nur Mitarbeiter der Firma Siemens wohnen. Sowohl die „Siedlung Heimat" südlich des Werner-von-Siemens-Park als auch die „Siemens-Siedlung" nördlich davon wurden nach den Plänen des Siemens-Chefarchitekten Hans C. Hertlein errichtet. Hier gibt es so gut wie keine Ladenräume, was eine merkwürdige Stille verursacht. Die 1930-35 erbaute Siedlung Heimat wirkt aber zumindest noch städtisch, was man besonders von den Reihenhäusern, die man 1922-25 in der Rapsstraße aufgestellt hat und die einem etwas fehl am Platze vorkommen, gar nicht sagen kann. Man braucht sich aber heutzutage keine Sorgen mehr zu machen, wie man hier wieder wegkommt. Vorbei an einigen etwas heruntergekommenen Siebziger-Jahre-Hochhäusern kann man sogar den Flughafen Tegel über den Saatwinkler Damm bequem zu Fuß erreichen.

Dirk Rudolph

 
 
 
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