Ausgabe 01 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Unruhige Zeiten

Der Widerstand gegen den Sozialabbau formiert sich

Ich kriege hier immer zu hören: „Toll, was ihr da macht, aber hier in Deutschland geht sowas nicht, hier ist überhaupt nichts los." Aber dann habe ich gehört, daß am 1. November in Berlin 100000 Menschen demonstriert haben, und als wir nach Berlin kamen, zur Veranstaltung in der Uni, da war diese Uni besetzt. Dann sind wir nach Hamburg gefahren, da hatten die Arbeiter eines sozialen Projektes gerade ihren Laden besetzt, weil der geschlossen werden soll. Und in Köln haben sie mir erzählt, daß in dieser großen Autofabrik Ford, wo doch die Gewerkschaftsbürokratie angeblich alles so gut im Griff hat, vor kurzem in einer Abteilung zweieinhalb Tage lang wild gestreikt wurde... Wirklich nichts los hier in Deutschland?

(Raúl, Arbeiter aus der besetzten argentinischen Fabrik Zanon, auf Vortragsreise in Deutschland)

Bisweilen ist es einfach aufbauender, eine auswärtige Sicht auf die hiesigen Verhältnisse zur Kenntnis zu nehmen, als sich das immerwährende Gejammer frustrierter Linker anzutun, welche seit Jahren neidisch nach Argentinien schauen, nach Frankreich oder Italien, um anschließend ausschweifend zu begründen, warum sich Deutsche niemals bewegen werden ­ eine wunderbare Ausrede für die eigene Untätigkeit. Bereits seit fast zwei Jahren mühen sich nun schon die verschiedenen Anti-Hartz-Bündnisse ab, um dem offensichtlichen Angriff auf die Lebensbedingungen der meisten Menschen hierzulande etwas entgegenzusetzen. Noch am 1. Juni letzten Jahres bequemten sich nur schlappe 1000 Leute zur Protestkundgebung vor dem SPD-Parteitag im Neuköllner Hotel Estrel. Am 1. November kamen dann völlig unerwartet 100000 ­ damit war der Bann gebrochen. Die in der Gesellschaft vorhandene Wut konnte für einen kurzen Moment kanalisiert, die Vereinzelung überwunden werden, was seitdem wie eine Initialzündung für weitere Proteste wirkt.

Seitdem kamen zu lediglich regional mobilisierten Protesten gegen den SPD-Parteitag in Bochum 10000 Menschen, bundesweit wurden die Hochschulen besetzt, und mit fortschreitendem Unmut verbündeten sich die streikenden Studenten mit anderen sozialen Initiativen. In Berlin fanden Aktionstage gegen den Wegfall der BVG-Sozialkarte statt, das Abgeordnetenhaus wurde blokkiert, um die erste Lesung des Berliner Haushalts zu stören, in der Silvesternacht verübte eine „militante gruppe" einen Brandanschlag auf das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in der Steglitzer Königin-Louise-Straße... Für die nähere Zukunft sind unter anderem ein „stadtpolitischer Kongreß" zur Bündelung der Aktivitäten in Berlin geplant und ein europäischer Aktionstag gegen Krieg und Sozialabbau.

Die Hauptakteure der sich nun formierenden sozialen Bewegung stammen aus den Reihen der Gewerkschaftslinken, aus Arbeitslosengruppen oder sozialen Initiativen, aus der „globalisierungskritischen" Bewegung und neuerdings auch wieder aus den Hochschulen. Die Gewerkschaftsbürokratie ist bisher nur am Rande beteiligt, durch den Berliner Landesverband von ver.di zum Beispiel. Über den Umgang mit den Gewerkschaften herrscht denn auch eine gewisse Unentschiedenheit in den verschiedenen Koordinationskreisen. Einerseits möchte man nur ungern auf die zweifellos vorhandene Mobilisierungsfähigkeit des DGB-Apparats verzichten, andererseits fürchtet man dessen inhaltliche und organisatorische Dominanz.

Abgesehen von einzelnen ver.di-Landesverbänden scheinen die Gewerkschaftsspitzen ohnehin nicht so recht geneigt zu sein, ihren sozialdemokratischen Parteigenossen in den Rücken zu fallen. Während in Bochum 10000 Menschen, davon die meisten als Gewerkschafter, den SPD-Parteitag blockierten, richtete der DGB-Vorsitzende Michael Sommer drinnen ein Grußwort an die Delegierten, in dem er auf die Proteste draußen vor der Tür mit keinem Wort einging. Deshalb kann man selbst aus Kreisen der Gewerkschaftslinken inzwischen Stimmen vernehmen, die gar nicht mehr auf den Gewerkschaftsapparat setzen. So schreibt Mag Mompel, Redakteurin von Labournet, des virtuellen Treffpunktes der Gewerkschaftslinken im Netz, in einem Aufsatz in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Fantômas, daß zur Wiederbelebung der „Gewerkschaftsbewegung" eine Rettung der „real existierenden Gewerkschaften" unterbleiben müsse. Diese Position ist natürlich durch die erfolgreiche Mobilisierung an den Gewerkschaftsspitzen vorbei gestärkt worden.

Doch auch ohne die einlullenden Reden der obersten Funktionäre dominieren sozialdemokratische Positionen die Szenerie. Man sehnt sich zurück ins „goldene Zeitalter" des Kapitalismus und appelliert an die Regierung, sich doch bitteschön auf Ideale des rheinischen Kapitalismus zu besinnen. Dabei unterschlägt man geflissentlich, daß jene Phase weder besonders golden war, noch besonders lang. Noch in den sechziger Jahren diskutierten linke Intellektuelle darüber, ob ein Arbeiter mit Kühlschrank nicht bereits korrumpiert und damit Mittelstand sei. Die Ausstattung eines gewöhnlichen Arbeiterhaushaltes mit allerlei technischem Gerät begann erst Mitte der siebziger Jahre normal zu sein. Seitdem werden die hauptsächlich im Gefolge der Kämpfe seit 1968 zugestandenen Sozialleistungen bereits wieder zurückgenommen. Die „Agenda 2010" ist nur der bisher am weitesten gehende Angriff. Der Kapitalismus war noch nie eine Einrichtung zum allgemeinen gesellschaftlichen Wohl.

Ob die junge Bewegung aber auf Dauer bei ihren zahmen Appellen bleibt, ist offen. Spätestens, wenn sich abzeichnet, daß die beschlossenen „Reformen" keineswegs zurückgenommen werden und sich die Lebensverhältnisse tatsächlich verschlechtern, wird man sich etwas einfallen lassen müssen. Schon jetzt gibt es auch Kräfte, die konkrete Kämpfe auf die Beine stellen wollen. Da es sich um eine internationale unübersichtliche Bewegung handelt, kann man auch damit rechnen, daß sie sich verselbständigt und sich die hiesigen Arbeiter bei ihren italienischen Kollegen infizieren und deren Kampfformen übernehmen. Dort sind in den letzten Wochen die wilden Streiks zurückgekehrt und zur allgemeinen Alltagserscheinung geworden. Es sind Streiks, die von keiner Großorganisation geplant, nicht angekündigt werden und nicht auf einen Widerhall in den Medien gieren, sondern den Wirtschaftskreislauf ganz unmittelbar blockieren.

Søren Jansen

 
 
 
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