Ausgabe 01 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

ditte & menschenkind:
Wie ein Blatt im Wind

„Menschenkind, du?" Der scheint heute mal wieder nicht der Ausgeschlafenste zu sein, wie er hier so, an das Abstellbrett der Imbißbude gelehnt, den Verkehr auf der Torstraße beobachtet, zu der er immer noch neckisch Pieckstraße sagt, na ja, eben der alte Gag mit Vorstrecken des Zeigefingers und sanftem Stoßen in die Magengegend des Gegenübers. Vor zig Jahren war das gang und gäbe, aber heute findet es Ditte schon ein bißchen infantil, auf welche Weise ihr Menschenkind antwortet. Er stößt ihr den Zeigefinger in den Bauch und kräht. „Sag mal Wilhelm!" (lauernde Pause) und nun mit Triumphdiskant: „Pieck! Also was willst du, was soll mit mir sein? Ja, ich bin Menschenkind, mein Kopf ist dicker als der Hals und meine Anschrift lautet..." Er kann nicht weiter reden, denn Ditte schiebt die Bockwurst in seinen Mund. Das war höchste Zeit! Offenbar hat Menschenkind Hunger, denn er saugt diese beliebte Berliner Speise geradezu in sich ein.

„Faß dich doch mal!" Menschenkind sieht Ditte erstaunt an. „Was hast du bloß heute?" Er schüttelt den Kopf. „Ditte, manchmal weiß ich einfach nicht, was du von mir willst! Ich stehe hier gemütlich im Kiez herum, zähle die alten Opel Kadetts, die auf der Pieckstraße vorbeikommen, proste mal Peter, mal Gerd zu, die hier wieder nicht vorbeischauen, und freue mich meines Lebens. Also, was?" Um der leichten Verstimmung etwas Nachdruck zu verleihen, steckt er sich eine Karo an und sieht dem Rauch hinterher, strikt vorbei an Ditte.

„Na, faß dich doch mal auf den Rücken!" Dieses leichte Glucksen unter den Worten Dittes macht Menschenkind mißtrauisch. So also, die führt da was auf meine Kosten im Schilde. Aber trotzdem siegt sein Entdeckertrieb. Er faßt sich auf den Rücken, erwischt auch etwas Raschelndes und führt das Papier auf Augenhöhe. „Die Romanistik bin ich? Na, kaum zu glauben. Sieht ja aus wie ein Jugendfoto von mir!"

Ach, dieser in seinen Kernfesten erschütterte Mensch! Dieses Kind! Dieses Menschenkind! Das ist ja voll inhaltlich rührend, wie er da steht, glaubt, die Romanistik zu sein und ein Jugendbildnis seiner selbst vor der Nase zu haben. Ach, was könnte er schon mit Romanistik anfangen? Vielleicht Ferlinghettis Jackett bürsten, falls der ihm einmal über den Weg laufen sollte, oder ist Ferlinghetti schon tot?

Aber Menschenkind ist kein Romanist, war nie einer und wird, so wie der Arbeitsmarkt auch im universitären Bereich aussieht, nie einer sein!

„Ach, Ditte, du treibst mit Entsetzen Scherz!" Fast wäre ihm eine Träne in den Bart getropft, aber, ehrlich gesagt, doch eher von den frisch geschnittenen Zwiebeln, die Mohamed Atta hinter der Imbißtheke aus dem gehörigen Chrombehälter mit dem Messer vom Brett schiebt. Menschenkind ist tatsächlich von Geburt an frankophil. In Familienkreisen wird immer wieder gern davon berichtet, daß Menschenkinds erstes und letztes Wort, das ihm einigerma-ßen verständlich über die Lippen gekommen wäre, FIN gewesen sei, und das ganz korrekt französisch ausgesprochen.

Und so wäre er eben der geborene Pessimist, gleich am Anfang Ende zu sagen. Tja, und dennoch nicht den Kopf hängen gelassen habe er, sondern das Köpfchen anständig gehoben, so wie es in dem Familienbuch Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind vorgeschrieben gewesen sei! A la Bonheur! FIN kann ja auch fein heißen, wie beim Ragout fin – so hatte ihn Ditte einmal aufgemuntert.

„Menschenkind! Wo du gleich wieder hindenkst! Ich war das doch gar nicht!" Dittes Entrüstung hört sich echt an, und um sich zu vergewissern, daß sie unschuldig sei, greift sie sich selbst auf den Rücken, faßt etwas Raschelndes, zieht es hervor und hält es Menschenkind hin, der natürlich auch diese Mitteilung auf sich bezieht. „Die Slawistik bin ich? Nun mach aber mal halblang! Du willst mich vollends durcheinanderbringen!"

Ditte faßt in den Papierkorb und zieht stapelweise die Konterfeis der Romanistik und Slawistik heraus. Fliegt aus den Papierkörben nun die zweite Staffel des Studentenstreiks?

Brigitte Struzyk / Dieter Kerschek

 
 
 
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