Ausgabe 01 - 2004 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Von alten Feinden und neuen Freunden

Wird der Studentenstreik am Ende noch politisch?

Auf der Vollversammlung der Humboldt Universität (HU) am 5. Januar entschied sich eine knappe Mehrheit der Studenten dafür, die Proteste fortzuführen. Nach mehrstündigen Diskussionen einigte man sich darauf, daß bis zum 29. Januar an vier Tagen pro Woche gestreikt wird. Wenige Tage später beschlossen auch die Studenten der Freien Universität (FU) und der Technischen Universität (TU), im Ausstand zu bleiben. Die Berliner Kunsthochschulen streiken im Januar ebenfalls weiter.

Die Präsidenten der FU und HU, Dieter Lenzen und Jürgen Mlynek, hatten wohl gehofft, den Streikenden würde in den Weihnachtsferien die Luft ausgehen. Am 23. Dezember unterzeichneten die einstigen Befürworter des Studentenprotestes in aller Stille die Änderungen und Ergänzungen zu den aktuellen Hochschulverträgen und stimmten den vom Senat beschlossenen Plänen für die drei großen Universitäten Berlins zu: 50 Millionen Euro sollen die Hochschulen in den Jahren 2004 und 2005 einsparen. Von 2006 bis 2009 soll der Etat um weitere 75 Millionen sinken. Nun habe man wenigstens Planungssicherheit und könne davon ausgehen, daß nicht noch mehr gekürzt werde, begründeten die Präsidenten ihren Schritt. Das Kuratorium der TU hingegen war dabei geblieben, die Sparvorgaben, denen zufolge ihre Uni rund 40 Prozent der Kürzungen tragen solle, abzulehnen. Wie die Sparsummen aufzuteilen sind, darüber solle laut Vizepräsident Jörg Steinbach erst entschieden werden, wenn die Strukturpläne der Unis vorliegen.

Max Peitzsch, Romanistikstudent der HU, bezweifelt, daß über die Strukturplanungen überhaupt nachgedacht wird. An seinem Institut sollen fünf von zehn Professorenstellen wegfallen, darunter auch der Lehrstuhl für die sprachwissenschaftliche Ausbildung in Französisch, dem Standardfach der romanischen Sprachen. „Man kann die Hochschulpolitik einfach nicht nachvollziehen", meint Peitzsch. In seinen Reden preise der Präsident Mlynek die HU zwar als eine der wichtigsten Universitäten Deutschlands. „Humboldt ist wie Coca Cola ­ das kennt jeder", wird er in einem Zeit-Artikel aus dem Jahr 2001 zitiert. Daß aber Wilhelm von Humboldt vor allem als Begründer der vergleichenden Sprachwissenschaft bekannt ist und die Romanistik als die erste vergleichende Sprachwissenschaft überhaupt gelten könne, scheine Mlynek bei seinen sogenannten Strukturplänen wohl kurzzeitig entfallen zu sein, meint Peitzsch und schüttelt verständnislos den Kopf.

Was aus den Studienbedingungen an den Berliner Universitäten wird, wenn die Strukturpläne umgesetzt werden, mag man sich lieber nicht vorstellen. Denn auch der Vorschlag von Finanzminister Thilo Sarrazin (SPD), einige Fachbereiche zusammenzulegen, um sie künftig nur noch an einer der drei Universitäten anzubieten, berücksichtigt nicht, daß trotz allem eine bestimmte Anzahl von Lehrstühlen vonnöten ist, um es zu ermöglichen, dieses oder jenes Fach überhaupt zu studieren.

Trotz allem streiken nun weniger Studenten als im letzten Jahr, die Universitätsgebäude sind nicht mehr besetzt, und viele Lehrveranstaltungen finden wieder statt. Das Engagement der Aktivisten jedoch scheint sich erhöht und dabei auch inhaltlich verschoben zu haben. Im neuen Jahr wächst die Anzahl von studentischen Initiativen gegen den Sozialabbau, die sich mit den betroffenen Gruppen solidarisieren. Die Studenten der FU entschieden auf der Vollversammlung, auch von Kürzungen betroffene Gruppen wie Schüler, Kindergartenkinder, Obdachlose, Sozialhilfeempfänger, Nahverkehrsnutzer, Kulturschaffende, Kranke usw. zu unterstützen. Eine Gruppe von TU-Studenten sammelt Unterschriften für ein Volksbegehren zur Sicherstellung von Kita-, Schul- und Hochschulstudienplätzen. Auf der Vollversammlung der HU wurde beschlossen, sich für die Schaffung eines Sozialen Zentrums einzusetzen. Der Trägerkreis „Recht auf Mobilität – Fahrt schwarz", ein Bündnis aus Studenten, Professoren, Obdachlosen und sozialen Trägern, protestiert gegen die Abschaffung des Sozialtickets und die Fahrpreiserhöhung der BVG, und die „Initiative Bankenskandal" konnte nicht zuletzt dank der Mithilfe der Studenten die Unterschriften für einen Antrag auf ein Volksbegehren abliefern.

Indem sie am 7. Januar die SPD-Parteizentrale besetzten, wandten sich die Studenten gegen die Einführung von Elite-Universitäten und forderten, die beschlossenen Kürzungen im Bildungs-, Sozial-, Kultur-, und Sportbereich zurückzunehmen. Für die 50 Rollstuhlfahrer unter den Demonstrierenden forderten die Studenten u.a. behindertengerechte U- und S-Bahnsteige.

Auch wenn die Kürzungen an den Universitäten bisher nicht zurückgenommen wurden und die Strukturplanungen sich vor allem danach richten, wie am schnellsten und bequemsten gespart werden kann – der Streik scheint die Studenten nicht nur für die eigene Misere, sondern auch für die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge sensibilisiert zu haben. Am 15. Januar protestierte das Berliner Bündnis gegen Sozial- und Bildungsabbau mit 1500 Studenten vor dem Abgeordnetenhaus gegen den Beschluß des Doppelhaushalts 2004/2005, der weitere Einsparungen vorsieht. Am Abend fand eine Großdemonstration des DGB statt, zu der mehrere tausend Menschen erschienen. Dieser Tag sollte der Auftakt für einen langfristigen Widerstand gegen Bildungs- und Sozialkürzungen sein. Die nächste Kürzungswelle kann also kommen.

Sonja Fahrenhorst

 
 
 
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