Ausgabe 10 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

scheinschlag Winter-Special: Teil 2

„Ein jeglicher in seine Stadt" – dieser Halbsatz der Weihnachtsgeschichte, dessen Wirkung sich auch die zornigsten Atheisten schwer entziehen können, gab den Anlaß für die diesjährigen scheinschlag-Winter-Special-Seiten. Für die meisten geht es Ende Dezember nach Hause, in den Schoß der Familie, den Höllenschlund der Kindheitserinnerungen, die ganze alte Gefühlskommode – zurück in die Heimat eben, die für die meisten Berliner nicht Berlin, sondern ein anderer Ort ist. Wir fragten einige scheinschlag-Autoren, was sie von ihren Herkunftsorten zu erzählen haben.

Foto: Mutti Schuhmann

HRO ­ Vaters Stadt

Mit dem Auto kommend, erreichst du kurz vor Rostock eine Anhöhe, von der sich sekundenlang das gesamte Panorama eröffnet. Links im Südwesten Gartenkolonien, dort beackerten meine Eltern eine Parzelle, von mir außer zur Beerenernte eher unbeliebt. Dahinter die kantige Südstadt, in deren damals nagelneuer Klinik ich geboren wurde. Der Friedhof, wo seit Ostern mein Vater ruht. Daneben der Barnstorfer Wald, wo ich Rodeln, Radfahren und Rauchen lernte, ein Buchenpark mit Waldkirche und Wisentgehege. Anbei die Flutlichtgerüste des Ostseestadions, wo sich Hansa seit eh und je durch Niederlagenserien und Tabellenkeller bolzt. Ich ging dort zur Schule, der Direktor verhinderte nicht nur mir das Abi durch seine engen Kontakte zum Stasihochhaus in der Innenstadt. Die gibt sich backstein-hanseatisch bis zu den Neubauten am Uni-Platz, wo Blücher im bronzenen Tigerfell posiert, drumherum die Stadtmauer mit Kröpeliner Tor, Kuhtor, Steintor.

Rostock nennt sich Stadt der sieben Tore, ich zähl nie mehr als drei, oder zählen die Türme mit? Der kegelrunde Wasserturm und drei markante Kirchtürme: die Dachwohnungen von St. Nikolai, an der wir vorbei zur Warnowschleuse zum Angeln fuhren, die neue, spitze Kupfernadel von St. Petri, die im Krieg fiel und die ich nur von Fotos kannte, und alles überragend St. Marien, die klobige Kuppel vor der verkanteten Altstadt, in der ich nach der Schule schwarz lebte. Nachts haben wir Grubenkuh gemolken, den auf den Grubenstraßengleisen abgestellte Schnapscontainer, in der Schienenflucht hohe Hafenspeicher, der Stadthafen damals mit Stacheldraht versperrt, der graue Warnow-Breitling, hinten die Kabelkrananlage der Werft, die mein Opa mitgeschweißt hat, nordöstlich der still liegende Überseehafen.

Der kurze Blick spannt Erinnerungen und Erwartungen, stimmt hoch wie der wolkengebauschte Himmel, gibt Größe vor, die die Stadt nicht einlöst. Kann eine Vaterstadt andere als ambivalente Gefühle zulassen? Ich biege ab in Richtung Ostsee.

Jan Grambow

Das Werk und seine Stadt

Wer einmal Wolfsburg besuchen mag, tut dies am besten abends um halb elf von der Autobahnabfahrt Königslutter aus. Dort kommen einem über eine halbe Stunde lang, Stoßstange an Stoßstange, Autos entgegen. Es ist die „Schichtkarawane", die sich aus dem 15 Kilometer entfernten Volkswagenwerk in die Umlandgemeinden walzt und sehr schön anschaulich macht, wie sehr das Werk der Gegend seinen Rhythmus aufzwingt.

Und nicht nur den Rhythmus. Ganz allgemein empfielt es sich in der Stadt, keine Kraftfahrzeuge anderer zu betatschen. Der Wolfsburger reagiert auf solche Unverschämtheiten bisweilen äußerst aggressiv. Wer bei VW arbeitet, ob als höherer Charge oder als „Bandaffe", bekommt sein Auto billiger, weshalb hier praktisch nur Neuwagen als Kapitalanlage herumfahren.

Neu ist auch sonst vieles, und was nicht mehr gefällt, wird eben abgerissen. Baute man bis Ende der siebziger Jahre noch hauptsächlich Hochhausviertel, um der Wohnungsnot Herr zu werden, entstehen seitdem überall Einfamilienhaussiedlungen. VW zahlt eben ganz gute Löhne. Die Einwohnerzahl Wolfsburgs ist seitdem aber gesunken, weshalb in den Hochhäusern haufenweise Wohnungen leerstehen. So konnte man auch hier letztes Jahr damit beginnen, die ersten dieser ungeliebten Häuser wieder zu entfernen.

Gelegentlich wird auch gezielt gebaut, um Unpassendes auszuradieren. So mußte in den achtziger Jahren die historische City, die aus ein paar Holzbaracken bestand, dem Neubau der Berufsschule weichen, und mit der neuen Volkswagen-Arena konnte ein besonders unrühmlicher Teil der Stadtgeschichte getilgt werden. Nach der Stadtgründung unter dem eigentlich viel passenderen Namen „Stadt des KdF-Wagens" befand sich an der Stelle des Stadions ein Lager, in dem polnische Zwangsarbeiter untergebracht waren, in der Wirtschaftswunderzeit pferchte man hier italienische Gastarbeiter ein, und später diente es als Obdachlosenheim.

Dirk Rudolph

Foto:Steffen Schuhmann

Heimsuchung

Wir waren verkatert und stanken. Aber die Sonne schien. Und wir hatten es geschafft, uns bis zwölf in Mühlheim einzufinden. Der alte VW-Bus sprang sofort an, sogar die Heizung lief. Christoph hielt vor dem letzten Aldi in Köln-Mühlheim. Wir kauften fünf Stiegen Joghurt und fünf Sixpacks. Und los. Nach 200 Kilometern waren alle blau, außer Christoph. Ich lag Schulter an Schulter mit Bastian auf der Ladefläche. Wir johlten Volkslieder. Ab Bielefeld Fußballlieder. Christoph und Matze wippten vorn mit. Wir mußten oft pissen. Unsere Laune wurde immer besser. Jetzt war Punk dran. Kurz vor Hannover versuchte Mario, in eine leere Bierbüchse zu pinkeln. Es ging daneben. Ab Helmstedt jaulte Bastian Weihnachtslieder.

Die Grenze war hell erleuchtet. Christoph kaute Kaugummi, Mario leerte die letzte Büchse. Die Grenzer huschten wie Gespenster an den Kontrollbaracken entlang, wir glotzen blöd. Nichts geschah. Endlich vereinigte sich die Straße wieder mit der Autobahn, der Zonenpiste. Mit ihren hochstehenden Fugen und verrutschten Platten. Die gefühlte Reisegeschwindigkeit lag unter 50 km/h. Es war längst dunkel.

Am Rasthof Börde, dem ersten ostelbischen, hielten wir. Wir waren nicht allein in dem Laden, taten aber so. Mario steckte drei Stangen Kippen gleich oben in die Lederjacke. Die einzige Kassiererin versuchte wegzuschauen, sie war ganz blaß. Bastian nahm Whisky und Eierlikör, ich brauchte Sekt. Wir zahlten die Schokolade. Bedankten uns und wankten grinsend an einer Stonewashed-Jeanshosencombo vorbei.

Magdeburg lag wie 'ne Ufoversammlung in einer Bördesenke. Die Eingeborenen hatten pulsierend flackernde Schwibbögen in ihre Fenster und schleimige Plakate an ihre Brücken gebastelt. „Willkommen in Magdeburg", „Wir begrüßen die Welt" und „Wir freuen uns auf Euch!" stand darauf. Späte, aber glühende Einsicht! Wir fuhren ins Zentrum des Kaffs, teilten kichernd die Joghurtstiegen, Schokoladentafeln und Sektflaschen auf und stapften etwas wacklig einem Weihnachtsfest 1989 im Kreise unserer lieben Hiergebliebenen entgegen ...

Anne Kathrin Hahn

Verstellte Sicht

Ich bin aus Hannover. Genauer aus Hannover-Bemerode. Das ist ein Stadtteil am Rand, gleich hinter Kirchrode und noch vor Wülferode auf dem Weg nach Peine. In Kirchrode wohnten die Gutsituierten, in Bemerode die Underdogs und die, die es nicht nach Kirchrode geschafft hatten, und in Wülferode hinterm Kronsberg die Altachtundsechziger. Wülferode war ein echtes kleines Dorf mit alten Meiereien. Wir hatten dafür einen Grafen mit Gut und Park, die von Graevemeyers, gleichzeitig Vermieter unseres Wohnblocks. Modell westdeutsches serielles Wohnen aus den Siebzigern, mit Blick auf eine Bungalowsiedlung und dahinter auf den Kronsberg, auf die geraden Rübenfelder des Gutes.

Stand man oben auf dem Kamm, ging der Blick bis nach Lühnde. In Niedersachsen sieht man überall schon am Freitag, wer am Sonntag zu Besuch kommt. Die Bewohner dieses Landstriches gelten als sturmfest und erdverwachsen. Ich mochte damals da oben den vielen Himmel und die Weite, den Sprühregen und den eisigen Ostwind. Hellgrau, dunkelbraun und Rüben, so weit das Auge reicht. Das beruhigte den Blick. Hannover, diese lieblose Stadt, war eine dreiviertel Stunde mit dem Bus entfernt. Die Grafen haben irgendwann ihr Land für gutes Geld an die Stadt verkauft. Dann baute man eine politisch korrekte Siedlung, eine Straßenbahn und die EXPO. Aus dem Kronsberg wurde ein Naherholungsgebiet mit einem künstlichen Wald. Schröders Hannover erreichte Bemerode. Die Sicht war verstellt.

Katja Brinkmann

Foto:Steffen Schuhmann

S-Bahn nach Berlin

Birkenwerder, das klingt schön, sagt jeder. Wäre schön, wenn man die Leute dort austauschen könnte, sage ich immer. Oder anders: Der schönste Tag in Birkenwerder war für mich der, als ich endgültig wegzog. Über das Kaff gibt es nicht viel zu sagen. Sechseinhalb Tausend Einwohner und – das Wichtigste – S-Bahn-Anschluß nach Berlin, zu den Kinos und Theatern, zur Welt allgemein. Die einzige Sehenswürdigkeit ist das ehemalige Naturschutzgebiet Briesetal. Als ich klein war, gab es dort sogar noch Eisvögel und ganz klare Quellen. In den Achtzigern hat die Landwirtschaft das Idyll zerstört.

Manchmal ging bei uns die Friedensfahrt durch. Dann hatten wir eine Stunde schulfrei und durften mit Winkelementen versehen an der F 96 stehen, die direkt an der Schule vorbeiführte. Ostdeutschen Autofahrern ist der Ort durch seinen Berg wohlbekannt, ein 35-prozentiger Anstieg inmitten der brandenburgischen Pampa mit schlecht geflicktem, antikem Kopfsteinpflaster als Straßenbelag. Das ging auf die Stoßdämpfer. Verirrte sich mal ein gut gefedertes Westauto hierher, mußte es schleichen.

Eine Berühmtheit hat dieser Ort nicht hervorgebracht. Clara Zetkin hat hier gelebt und ist auch hier gestorben. Zu irgendeinem Jubiläum kam mal die Ministerin mit der berühmten Blauspülung im Haar und weihte die Gedenkstätte neu ein. Da mußten auch wieder alle winken als Schwenkfutter für die „Aktuelle Kamera". Das war wohl das einzige Mal, daß wir uns diese Sendung freiwillig antaten.

Heute besteht der Ort für mich nur noch aus der Strecke vom Bahnhof zum Haus meiner Eltern. Zu Weihnachten gibt's den Spaziergang durch den nahen Wald. Auf dem Weg dorthin werde ich mich erneut darüber aufregen, wie sehr diese Dorfdeppen ihre schönen Häuser verschandelt haben. Der Wald hingegen erholt sich langsam wieder.

Ingrid Beerbaum

Mitteleuropa, unverbesserlich

„Wels liegt in Mitteleuropa, oder?" Die Frage war rhetorisch, aber sie klang besorgt. Der Vertrauensvorschuß, den mein ungarischer Freund, 1956 als Flüchtling nach Österreich gekommen, seiner neuen Heimat gewährte, war aber immer noch nicht aufgebraucht – auch wenn ihn die Realität längst eines Besseren belehren hätte können. Er leitete die städtische Galerie & hatte sich mit Katholiken & Nazis, einem selbsternannten „Pornojäger" an ihrer Spitze, herumzuschlagen, die mit Postwurfsendungen & Aufmärschen vor seiner Galerie protestierten. Als die Stimmung im Vorfeld einer Hermann-Nitsch-Ausstellung eskalierte, organisierten wir eine Gegenkundgebung für die Freiheit der Kunst. Das nährte die Illusion einer Sprengkraft & politischen Relevanz dessen, was doch längst zu Neo-Neoavantgarde & postmoderner Spielerei verflacht war. Die Provinzspießer in Wels aber waren noch zu provozieren; die Oppositionellen, die sich natürlich alle kannten, trafen sich konspirativ in der Galerie. Ich hielt dort ausufernde Vorträge über Semiotik & das Ende der Kunst – modische, zusammengelesene Theorieversatzstücke. Ich schrieb Theaterstücke irgendwo zwischen Bernhard & Beckett & komponierte in Zwölftontechnik, weil ich hier die fortgeschrittenste Musikästhetik vermutete; mein Musiklehrer sorgte für Aufführungen, dafür, daß mir die Diskrepanz zwischen Theorie & musikalischer Praxis bewußt wurde. Im Unterricht forderte er zum Mitbringen der Lieblingsplatten auf & legte anhand der Beispiele dar, wie erbarmungswürdig primitiv der von den meisten favorisierte Mainstream-Pop war; das machte ihn unbeliebt. Ein Kunstlehrer wiederum bestritt große Teile seines Unterrichts mit Bordell-Erlebnissen in Amsterdam & Prag, zeichnete & photographierte obsessiv Schaufenster in Budapest oder auch Trucks in den USA. Mir schien das zu zeigen, wie Kunst & Leben sich verbinden könnten; er hat sich einige Jahre später umgebracht.

Florian Neuner

Fotos: Steffen Schuhmann und Mutti

 
 
 
Ausgabe 10 - 2003 © scheinschlag 2003/04