Ausgabe 10 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

 

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Gegen den Gedächtnisverlust

Der libanesische Autor Raschid al-Daif

Libanon 1979, West-Beirut: Vor vier Jahren ist der Bürgerkrieg ausgebrochen, palästinensische Milizen herrschen über den westlichen Teil der Stadt. Als Raschid al-Daif nach seiner Lehrveranstaltung an der Libanesischen Universität fast wieder zu Hause angekommen ist, erschüttert eine schwere Explosion die gesamte Stadt. Al-Daif läßt seinen Wagen stehen, läuft durch die Trümmerlandschaft vor seinem Haus, hinauf zu seiner Wohnung. Überall Glas. Die Wohnungstür hat sich verzogen, er tritt sie ein. Auch innen überall Scherben auf dem Boden. Ambulanzen und dann die Miliz vor der Tür. Ein gelber Golf war durch eine ferngesteuerte Zündung gesprengt worden, als Ali Hassan Salameh in einer Wagenkolonne vorbeifuhr. Salameh gehört zu den palästinensischen Hauptverantwortlichen für die Geiselnahme der israelischen Sportler bei den Olympischen Spielen in München 1972 und hatte deren blutiges Ende überlebt. Kurz danach wurde er im Zusammenhang mit der Entführung einer Lufthansa-Maschine freigelassen. Für die Explosion in Beirut, bei der zehn Personen starben und zahlreiche verletzt wurden, zeichnet wahrscheinlich der israelische Geheimdienst verantwortlich.

„Der Wagen war mir morgens aufgefallen, ich bin noch um ihn herumgegangen und hatte hineingeschaut. Sie hätten die Bombe jederzeit sprengen können. Die Ereignisse des 22. Januar 1979 haben für mich das Faß zum Überlaufen gebracht. Wir waren damals Kommunisten. Der Krieg war dann aber kein Kampf von Arm gegen Reich, sondern von Arm und Reich gegen Reich und Arm. Palästinenser bekämpften sich untereinander, Syrer kämpften mit Palästinensern gegen Christen, dann mit Christen gegen Palästinenser, dann die Christen untereinander und gegen die Drusen, alle miteinander und gegeneinander ­ wer sollte das verstehen? Was geschah, entzog sich der Analyse. Ich konnte nur versuchen, die Realität zu beschreiben. Literatur ist ein gutes Mittel, um darüber zu sprechen, was geschieht", sagt Raschid al-Daif. Schreiben wurde immer wichtiger für ihn: „Schreiben war ein Ausweg aus dieser Not im Krieg. Man weiß nie, warum etwas geschieht. Etwas geschieht. Und darüber schreibe ich. Ich schreibe über Personen, die existieren."

Zwischen 1983 und 1992 erscheinen drei Gedichtbände, ein Kinderbuch und fünf Romane. Beirut wird bei israelischen Bombenangriffen stark zerstört, al-Daif bei einem Granatenangriff schwer verletzt. In dem Roman Ausgeliefert zwischen Schläfrigkeit und Schlaf schildert der Ich-Erzähler eine Todeserfahrung: „Sechs Männer. Ich kann mich an nichts erinnern. Ich war auf der Stelle tot. Sie töteten mich aus Angst vor mir. Ganz bestimmt. Sie hatten Angst vor mir, also töteten sie mich ­ Er ist tot. Das ist es, was sie sagten. Sie packten mich in einen Plastiksack und brachten mich zum nächsten Milizposten ... Meine Eltern aber wollten nicht glauben, daß die Leiche ich war." Al-Daif schreibt schonungslos, detailliert und streng subjektiv. Dieser Roman gilt als der hervorragendste literarische Kommentar zum libanesischen Bürgerkrieg.

1991, nach Kriegsende, kehrt al-Daif in seine alte Wohnung zurück. Ab jetzt ist es kein Schreiben mehr unter dem Druck der Ereignisse. Die Straße vor seiner Wohnung wird umbenannt und ei-ne Generalamnestie erlassen. Auf den staatlich verordneten Gedächtnisverlust reagiert al-Daif 1995 mit einem fiktiven Roman-Brief an den japanischen Nobelpreisträger Yasunari Kawabata. „Ich habe Kawabata gewählt, weil er tot war, er hatte sich 1972 umgebracht. Das Nichts hat ihn angezogen. Und weil er weder aus dem Westen noch aus dem Nahen Osten stammte." Mit dem Roman Lieber Herr Kawabata, der als einziger seiner Romane in einer ausgezeichneten deutschen Übersetzung vorliegt, gelingt al-Daif dann auch international der Durchbruch. Der briefeschreibende Raschid erzählt seinem japanischen Adressaten sehr persönlich aus seiner Biographie: von der Ankunft der Moderne in seinem kleinen maronitisch-christlichen Dorf im Nordlibanon (im Gewand des Weltbildes Galileis im Geographieunterricht oder der Radiosendungen über Gagarins Weltumrundung), von den Folgen der tribalen Fehden der Bewohner und seiner Studienzeit in Beirut während des Krieges, zu dritt in einem Vierbettzimmer ­ „Das vierte wurde von durchreisenden Gästen benutzt. Es war ein ständiger Albtraum für uns, da wir nie wußten, wer uns beschert würde: jemand mit Schweißfüssen oder ein Schnarcher" ­ bis zu seiner Verletzung im Krieg.

Seitdem hat al-Daif vier weitere Romane geschrieben, die zeigen, welchen Spannungen die libanesische Gesellschaft zwischen Tradition und Moderne ausgesetzt ist. In Learning English wird der Leser in den inneren Monolog eines Beiruter Literaturprofessors hineingezogen, der glaubt, für seinen Vater Blutrache üben zu müssen, um dann von seiner illiteraten Mutter über die Existenz von Gerichten belehrt zu werden. In Zum Teufel mit Meryl Streep geht es um eine arrangierte Ehe, bei der Sie vom westlichen Frauenbild beeinflußt ist und Er ganz den orientalischen Ehemann abgibt. Al-Daif: „Ich möchte nun einfache Romane schreiben, tiefgründig sollen sie sein und amüsant. Ich schreibe nie viel, immer etwa 150 Seiten, ich feile sehr stark an den Texten, und in der Haltung, daß auch ein Leser in Vietnam mich verstehen kann." Nachdem alles zerstört war, sei es an der Zeit gewesen, bei sich selber anzufangen, meint al-Daif. „Im Libanon hat es im Krieg eine Inflation der Märtyrer gegeben. Ich möchte nicht schlecht über sie reden, es ist aber notwendig, daß wir den Toten Fragen stellen, was passiert ist. Das ist eine unmögliche Forderung, aber die einzige Lösung. Ich rufe dazu auf, Angst zu haben. Angst zu haben bedeutet Respekt vor der Menschlichkeit, vor dem Individuum und vor dem Leben."

Katja Brinkmann

Raschid al-Daif: Lieber Herr Kawabata. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Lenos Verlag, Basel 1995. 16,95 Euro

 
 
 
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