Ausgabe 09 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Da lieg' ich denn, ohnmächtiger Geselle

Scheintote in der Literatur und im wirklichen Leben

Als der englische Matrose im Jahre 1785 auf hoher See starb, sollte seine Leiche, wie es den damaligen Gepflogenheiten entsprach, in Watte eingenäht werden. Ein Kamerad versah an ihm diesen letzten Dienst, doch „als er den Todten in der Gegend des Gesichts einnähete, stach er unvorsichtiger Weise mit der Nadel quer durch die Nase. Der Scheintodte fing an, sich in seiner Hülle so heftig zu bewegen, daß er das bereits um ihn herum genähete Leinentuch mit dem Ellenbogen zerriß. Der Matrose, der das Nähen verrichtete, erschrak, ließ die Nadel in der Nase des Erwachten stecken und lief was er konnte von dem Verdecke." Nach drei Tagen war der scheintote Matrose sogar wieder arbeitsfähig. Das ist nur einer von zahlreichen Berichten, die der Berliner Arzt Christoph Wilhelm Hufeland 1808 in seinem Buch Der Scheintod oder Sammlung der wichtigsten Thatsachen und Bemerkungen darüber, in alphabetischer Ordnung zusammengetragen hat. Es wird dort von einer schwangeren Scheintoten berichtet, die in der Gruft noch ein Kind zur Welt bringt, ehe sie endgültig stirbt – man findet später die dem Sarg Entstiegene mit dem Skelett des Neugeborenen; in Prag wird ein dreifacher Mörder zwei Mal voreilig in die Totenkammer gebracht – erst nachdem er gebeichtet hat, stirbt er wirklich; eine Scheintote in Hanau indes hält ihren Nichten, die ihr noch am Sterbebett den Ring vom Finger ziehen wollen, eine „derbe Strafpredigt".

Schon seine Dissertation hatte der 1762 geborene Hufeland ­ königlich-preußischer Geheimrat und wirklicher Leibarzt ­ der Frage gewidmet, ob es möglich sei, tote Tiere mit Hilfe von Elektrizität wieder zum Leben zu erwecken. Bei seinem „Scheintoten-Lexikon" handelt es sich aber keineswegs um eine kuriose, medizinhistorische Fußnote, sondern um die Reaktion auf ein reales Problem; Hufeland trug alles relevante Wissen über Todesanzeichen und Reanimationstechniken zusammen, um ein vorzeitiges Begraben noch Lebender zu verhindern: „Wer diesem Scheintoten-Wörterbuche auch nur einige Aufmerksamkeit schenkt, oder nur einzelne Artikel beherziget: der wird sich von dem großen Unglücke einer übereilten Beerdigung überzeugen." Hufeland schlägt ein „Familien-Bündniß" vor, um „allen Gefahren des Scheintodes leicht und unfehlbar auszuweichen" ­ beruhend auf einem simplen Prinzip: Man darf den vermeintlichen Toten eben nicht voreilig bestatten, sollte einfach noch eine Weile warten, ob nicht doch noch Lebenszeichen sich einstellen. Der „Contract" sieht vor, daß „wohlunterrichtete, vorurtheilslose, nüchterne Wächter" bei dem Toten bleiben, bis „die über den ganzen Körper sich verbreitende allgemeine Fäulniß" festgestellt werden kann ­ notfalls durchzusetzen per Gerichtsbeschluß, damit rücksichtslose Angehörige nicht zum „Mörder einer Scheinleiche" werden. Doch damit nicht genug: Um die Scheintod-Prävention zum allgemeinen Standard zu erheben, forderte Hufeland die Errichtung sogenannter Leichenhäuser, wo die vermeintlichen Toten so lange unter Aufsicht liegen sollten, bis die einsetzende Verwesung jeden Zweifel an ihrem Hinschied unmöglich macht. Ein erstes Leichenhaus wurde 1792 unter Hufelands Ägide in Weimar errichtet.

Weniger aufwendig war eine noch bis ins 20. Jahrhundert in Graz praktizierte Methode: Durch einen sogenannten Herzstich konnte die Möglichkeit einer Rückkehr der Leiche ins Leben mit Sicherheit ausgeschlossen werden. Eine Feuerbestattung löst das Problem ähnlich definitiv, doch waren Einäscherungen zu Hufelands Zeiten und noch lange danach von der katholischen Kirche geächtet. Hufelands einleuchtenden und einfach zu realisierenden Vorschlägen zum Trotz wurde im 19. Jahrhundert eine ganze Reihe abstruser Techniken ersonnen, die ein langsames, qualvolles Ersticken im Sarg verhindern bzw. den Scheintoten in den Stand versetzen sollten, sich bemerkbar zu machen. Sogenannte Alarmgräber sahen die Möglichkeit vor, vom Sarg aus eine Klingel auszulösen; ein „automatischer Zungenzieher" zog Tote zu Reanimationszwecken 20 bis 25 Mal pro Minute an der Zunge.

Der Nachdruck von Hufelands „Scheintoten-Lexikon" wurde 1986 von dem Schriftsteller Gerhard Köpf herausgegeben und eingeleitet. Das ist kein Zufall. Immer schon und noch lange nachdem die Angst vor dem Lebendig-begraben-Werden im 19. Jahrhundert eine große Teile der Bevölkerung erfassende Hysterie darstellte, beflügelte der Scheintod die literarische Phantasie. So ist Gottfried Kellers Gedichtzyklus Lebendig begraben, später von Othmar Schoeck eindrucksvoll vertont, nicht nur Zeugnis einer zeittypischen Angst. Die Situation des aus seinem Grab Sprechenden wird metaphorisch geweitet zum „Selbstbildnis des in seinem Eigenbrödlertum begrabenen, revoltierenden und vergeblich nach dem Glück greifenden ,gefrorenen' Christen" (Walter Muschg): „Da lieg' ich denn,/ohnmächtiger Geselle,/Ins Loch geworfen, wie ein Strassenheld, Ein lärmender, von der Empörung Welle;/Ein blinder Maulwurf im zerwühlten Feld!"

Geradezu besessen vom Thema Scheintod war Friederike Kempner (1836-1904), bekannt vor allem durch ihre vor unfreiwilligem Humor strotzende Lyrik. Bereits im Alter von 15 Jahren will sie in den Dörfern ihrer Heimat „alle Toten überprüft" haben, „damit nicht Scheintote vergraben werden"; mit 18 verfaßte sie eine „Denkschrift" Über die Notwendigkeit einer gesetzlichen Einführung von Leichenhäusern. In einem „Nocturno" zeichnet Kempner drastisch das Schicksal eines scheintoten Kindes: „Stürmisch ist die Nacht,/Kind im Grab erwacht,/Seine schwache Kraft/Es zusammenrafft." Selbstredend ließ Kempner eine Klingelleitung in ihren Sarg legen; sie ist trotzdem nicht wieder erwacht.

Damit mochte der Dramatiker Johann Nestroy sich nicht begnügen. Er verfügte Herzstich und Klingelanlage; Hans Christian Andersen legte jeden Abend einen Zettel auf seinen Nachttisch: „Ich bin nur scheintot!" Diese und viele andere Geschichten finden wir in dem literarischen Werk, das sich in jüngerer Zeit wohl am obsessivsten mit dem Thema beschäftigt hat: in Hermann Burgers Roman Schilten (1976). Das Schulhaus in einem abgelegenen Dorf im Aargau grenzt direkt an den Friedhof; die Turnhalle wird zugleich als Leichenhalle genutzt. Mehr und mehr ergreift der Tod Besitz von der Vorstellungswelt des in einem „Schulbericht zuhanden der Inspektoren-Konferenz" monomanisch vor sich hin delirierenden Lehrers Armin Schildknecht: „Zwei Dinge, Herr Inspektor, verlange ich von meinen Schülern am Ende ihrer Schulzeit: daß sie ein Verschollenheitsverfahren einleiten und einem Scheintoten Erste Hilfe darbieten können." Schildknecht, der für die Einführung eines „Scheintotensonntags" plädiert, hat natürlich seinen Hufeland gelesen, und die Schulklasse – die sich freilich am Ende als fiktiv erweisen wird – verlangt immer wieder nach dessen Fallbeschreibungen. Das in Schilten praktizierte „Scheintoten-Praktikum" besteht darin, „daß sich jeder einmal, aber nur so lange er will, unter den Boden legt, unter den Turnhallenboden in die abdeckbare Stuhlgrube, daß er sich mit dem obersten Teil des Schwedenkastens und mit den Brettern zudecken läßt und aus der Finsternis der Gräberperspektive herauf die fünf Strophen von Gottfried Kellers Gedicht rezitiert: ,Lebendig begraben'."

Auch wenn es heute Definitionsschwierigkeiten und Streitereien über den exakten Zeitpunkt des Todes geben mag – die High-Tech-Medizin produziert mehr Scheinlebendige als Scheintote – können die diagnostischen Möglichkeiten doch zweifelsfrei das Wiedererwachen von Scheinleichen im Grab verhindern – wenn sie denn angewendet werden. Die heutigen Fälle von Scheintod, und die gibt es durchaus, sind demnach meist der Fahrlässigkeit der die Totenscheine ausstellenden Ärzte geschuldet. Wird ein Mediziner zu einer angeblich verschiedenen 90-jährigen ins Altersheim gerufen, kommen die möglicherweise angebrachten Zweifel an ihrem Ableben oft gar nicht erst auf. Einer der jüngsten spektakulären Fälle ereignete sich erst letztes Jahr im nordrhein-westfälischen Mettmann: Eine 72jährige wurde im Seniorenheim von einem Arzt für tot erklärt und daraufhin ins Leichenkühlhaus gebracht. Als sie ein erfahrener Bestatter dort abholen sollte, kamen ihm Zweifel. Die Frau konnte aber nicht mehr gerettet werden und starb einen endgültigen Tod an Unterkühlung.

Peter Stirner

 
 
 
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