Ausgabe 09 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Wir sind nekrophil

Totenkult statt Sterbekultur

Nur eines ist sicher, der Tod. Nach diesem Motto bieten Bestattungsunternehmen immer bessere, immer umfassendere Vorsorgepakete an. Und das ob – oder gerade wegen – des tödlichen Konkurrenzkampfes, der seit Jahren auf dem Totenkult-Markt tobt. „Grenzenlose Sicherheit" wird von den Bestattern versprochen – „grenzenlose Sicherheit" für danach. Hat man erst mal das trotz aller Absicherungen nicht ganz ungefährliche Leben überwunden, dann darf man sich endlich in Sicherheit wiegen. Der Mensch des spätchristlichen Abendlandes hat alles unter Kontrolle – selbst, dank St. Grieneisen und Co., den eigenen Tod. Alles? Oder doch eines nicht, seine gottverdammte Angst vorm Sterben. Und so konfrontiert er sich damit am besten erst gar nicht; die Sorge um sein ach so wichtiges einmaliges Leben geht nahtlos über in die Sorge um seinen ebenso wichtigen Leichnam. Das, was dazwischen liegt, das schweigt er am besten tot. Und so wundert es nicht, daß der Totenkult für den Einzelnen in den letzten 100 Jahren im gleichen Maße an Bedeutung gewann, wie die Sterbekultur zurückging.

In den USA, die uns natürlich auch hier voraus sind, sterben heute ca. 80 Prozent der Menschen hospitalisiert, zum Trost gibt es Urnen im Micky-Mouse- oder Freiheitsstatuen- oder anderem todschickem Design. Bei uns sind es vielleicht nur 75 Prozent, die abgeschoben und isoliert ihrer von der PR-Abteilung der Bestattungsunternehmen versicherten Sicherheit entgegensiechen. Der Lohn für den Verzicht auf ein würdevolles Sterben ist ein Eichensarg oder eine Urne in rosa. Und auch „für die lieben Kleinen" ist gesorgt; den „viel zu früh Verstorbenen" legt man nicht nur in Manhattan sondern auch in Berlin immer öfter Grabbeilagen in Form ihres Lieblingsspielzeugs auf die kalte Erde, unter denen ihre Gebeine im beschworenen Frieden ruh'n. Totenkult.

Auch das omnipotente Internet ist nicht vor ihm gefeit: Es gibt Websites von „toten Seelen", d.h. von ihren Hinterbliebenen, die nicht einmal zu ahnen scheinen, wie pervers das ist. Totgeburten werden zu „Schmetterlingskindern" und ihre Eltern schämen sich nicht, diese Föten per Foto zur Schau zu stellen. Totenkult? Oder ist das schon Leichenschändung?

In Deutschland gibt es eine Friedhofspflicht. Nur nebenbei: Das Gesetz stammt aus jenen Zeiten, in denen die Überreste der vergasten Juden der NS-Kriegsindustrie zugeführt wurden. Seither darf man die Urne seiner unsterblichen Geliebten nicht mehr unterm Bett aufbewahren, um auf ihrer Asche Tränen oder andere Flüssigkeiten zu vergießen; davor schützt der heilige Staat die heiligen Toten. Ebenfalls schützt er die Gebeine davor, daß die befreite Witwe sie in Einzelteilen an Medizinstudenten verkaufen kann.

Wir sind nekrophil. Der Ehrenkodex der US-Rangers besagt: Keiner wird zurückgelassen. Und so gehen bis heute zwei, drei, zwölf oder noch mehr Soldaten in den Tod, um einen einzigen Leichnam zu bergen.

Leichen oder ihre Überreste genießen nicht nur laut ihrer Bestatter Sicherheit, sie besitzen auch den Schutz des Staates. Aber wer sichert und schützt die Sterbenden? Noch vor 100 Jahren starben in Deutschland 75 bis 80 Prozent der Menschen im Kreise ihrer Familie, ebenso viele werden heute zum Sterben abgeschoben.

Bereits der unsterbliche Sophokles läßt seinen Aias sprechen: „Ein würdiges Leben und ein würdiges Sterben, das ist es, was den Edlen auszeichnet." In diesem Drama von vor ca. zweieinhalbtausend Jahren geht es dann allerdings nicht nur um die würdige Bestattung des Leichnams des Titelhelden. Indes: Ein würdiges Sterben war selbstverständlich, nicht so der würdige Umgang mit dem Leichnam. Das unterscheidet uns von Sophokles. Für die Leiche haben wir alle erdenkbaren Sicherheiten.

Vor dem Tod sind sie alle gleich. Du als Leser dieser meschuggen Zeilen, Du stirbst – und das ist todsicher; egal ob Du an ein Jenseits glaubst oder an Reinkarnation oder an gar nichts oder nur an Deine Angst davor. Es ist unabänderlich, Du wirst sterben. Die Frage ist, wie willst Du sterben? In Angst und Schrecken, isoliert von Deiner Umwelt, am Tropf, allein, in der Gewißheit, für Deinen toten Leichnam vorgesorgt zu haben?

Hans J. Schönfeld

 
 
 
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