Ausgabe 09 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Die Heiligen und die Tatsachenmenschen

QRT auf der Spur des nihilistischen Helden

Fotos: Jörg Grüneberg und Schwester Jaqueline (5)

Kennt jemand den Weg, den der „nihilistische Held" während der 100 Jahre seiner Existenz ging? Weiß jemand, was ein solcher Held überhaupt ist? Der 1996 verstorbene Berliner Theoretiker QRT (Markus Konradin Leiner) zeichnet in seinem über 500 Seiten starken, posthum veröffentlichten Werk Drachensaat eine Mitte des 19. Jahrhunderts entstandene philosophisch-poetische Strömung nach, die auch als „heroischer Nihilismus" bezeichnet wird.

QRT unterscheidet zwei grundlegende Richtungen des „Heldentums", das sich der in der Mitte des 19. Jahrhunderts aufgekommenen Werte-Dekadenz entgegenstellte: Einerseits den „heroischen Idealismus", der den Verfall der Werte mit einem neuen Gesellschaftsideal zu überwinden suchte ­ und sich bis zu den Nazis und deren Ideal eines rassisch legitimierten, gesunden arischen Körpers verfolgen läßt; andererseits den „heroischen Nihilismus", der auf den aktiven Eingriff der Sprache setzt, die Kraft der Wörter und der Poesie. Die Tatsache, daß diese poetische Virtualität ausschließlich dem „heroischen Nihilisten" vorbehalten ist, führt immerhin zu der Absicht, Rasse zu „haben", anstatt Rasse zu „sein", wie es die Nazis proklamierten, um sich über bloß genetische Faktoren eine kulturelle Besonderheit zuzuschreiben.

Neben einer Gründergeneration (Schopenhauer, Hegel, Nietzsche) zählt QRT zwei weitere Generationen des „heroischen Nihilismus": Die erste findet man zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg (Weininger, George, Blüher, Ball), die zweite von 1920 bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts (Spengler, Musil, Benn, Jünger u.a.). Der entscheidende Unterschied liegt in ihrem jeweiligen Impuls: „Während die erste Generation durch Auslöschung der Sexualität eine Ordnung der Produktion schaffen wollte, eben die des Geistes, zielt die zweite Generation auf eine Ordnung der Reproduktion ab, eben die der disziplinierten Körper." Es sei deshalb nicht zufällig, daß die erste Generation den Heiligen, letztere eher den Tatsachenmenschen hervorgebracht habe.

Gegen Ende seines Buches entdeckt QRT in der poststrukturalistischen französischen Philosophie der jüngsten Zeit die Fortsetzungsgeschichte der von ihm so peinlich genau recherchierten Heroen- Strömung. Das Wissen sei eine Ratte, deren Nachkommen immun gegen das Gift würden, mit der man diese Ratte getötet habe. So hätten die „toxisch resistenten" französischen Denker, etwa Foucault, diskursive Strategien und Metaphern gefunden, mit denen man die von ihnen fortgeführte Philosophie des „heroischen Nihilismus" vor der Vergiftung durch die geschichtlichen Auswirkungen dieses Denkens – wie den Nationalsozialismus – schützen könne.

Nach Tekknologic, Tekknowledge, Tekgnosis (s. scheinschlag 3/2000) und Schlachtfelder der elektronischen Wüste ist Drachensaat, von QRTs Freund und Nachlaßverwalter Tom Lamberty kompiliert, das dritte und vorerst letzte Buch des Underground-Theoretikers, das im Berliner Merve Verlag erscheint. Durch die vergleichsweise Monstrosität seines Umfangs und das gewählte Sujet unterscheidet es sich allerdings erheblich von den vorangegangenen, größtenteils recht skizzenhaft anmutenden Essays z.B. über Techno-Ritualismus, Arnold Schwarzenegger und das ökonomische Kapital als „ins Leere gespritztes Sperma".

Daß sich hier jemand detailliert mit den unabsichtlichen geistigen Ideengebern einer Bewegung beschäftigt hat, die schließlich im Holocaust gipfelte, und daß er dabei versucht hat, die Trennlinie zwischen diesen beiden Erscheinungen möglichst deutlich herauszuarbeiten, macht das Buch interessant – nicht nur für diejenigen, die schon immer kaum eine Ähnlichkeit z.B. zwischen Otto Weininger und Heinrich Himmler entdecken konnten.

Wolfram Hasch

* QRT: Drachensaat. Auf dem Weg zum nihilistischen Helden. Hg. von Tom Lamberty und Frank Wulf. Merve Verlag, Berlin 2000. 35 Euro

 
 
 
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