Ausgabe 09 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Substandard als Inspiration

Die Ausstellung Leben unter dem Halbmond im Vitra Design Museum


Foto: Knut Hildebrandt

err Titel ist plakativ, erst der Untertitel „Die Wohnkulturen der arabischen Welt" gibt einen Hinweis darauf, was wirklich in der Ausstellung gezeigt wird, und hätte allein wohl völlig ausgereicht. Schüsseln, Modelle, Zeltstangen, Decken, Wohnaccessoires und großformatige Fotos geben dem Besucher einen satten Eindruck davon, wie viele verschiedene Formen und Farben in diesem riesigen geographischen Raum anzutreffen sind.

In dem alten Umspannwerk wie auf einer Perlenschnur aufgereiht, beginnt die Ausstellung mit dem Lebensbereich der Nomaden, geht dann über zum ländlichen Bereich, um mit der Stadt und der modernen Entwicklung abzuschließen. Die Ausstellungsmacher betrachten ihr Objekt durch die Brille des Designers von Wohnideen: unter rein ästhetischem Aspekt. Die Frage nach der Funktion sei zunächst nachrangig, sagt Direktor Mateo Kries. Die Ausstellung wolle eine Gegenwelt zu Minimalismus und der klassischen Moderne schaffen, indem das faszinierende dekorative Reservoir der arabischen Kultur, das schon Le Corbusier anregte, in den Mittelpunkt gerückt werde.

In der Tat ist der Zugriff auf die Materie kein ethnologischer. Dem Besucher wird gezeigt, aus welchen Bechern Beduinen ihren Kaffee trinken. Wer wissen möchte, wie man die Tassen sauber bekommt, wenn das Trinkwasser dafür zu schade ist, erwarte hier keine Antwort. Auch nicht, wie man Zeltmattenhalter einsetzt oder ein Zelt aufstellt. Besonders deutlich wird der ästhetische Zugang in den Filmen, die Mateo Kries von seinen Reisen mitgebracht hat. Sie geben Einblicke in die unterschiedlichen, im Schwinden begriffenen Wohnformen – wie die Bienenkorbhäuser in Syrien oder die marokkanischen Qasbahs – und informieren doch kaum darüber, auf welche Weise ihre Bewohner sie nutzen oder ob sie sich darin wohl fühlen. Gebäude dieser Art können kaum den Standards genügen, wie sie heute von ihren Bewohnern als angemessen empfunden werden. Niemand bleibt aus Nostalgie in einem Lehmziegelhaus ohne Wasseranschluß (aber mit winterlicher Tropfgarantie von oben) wohnen, wenn er in einem neuen Stahlbetonbau mit fließendem Wasser und trockenen Fußes leben kann – es sei denn, man nimmt diese Nachteile in Kauf und ist sich darüber bewußt, daß das Haus im Sommer kühler und auf lange Sicht billiger ist, da durch den passiven Dämmeffekt der dicken Mauern keine Klimaanlage notwendig ist.

So reflektiert die Ausstellung ausdrücklich nicht die tatsächliche Wohnsituation in den arabischen Ländern, in denen die Bevölkerungsmehrheit ihr Leben in gesichtslosen Wohnblocks verbringt. Und auch nicht die heutige Alltagskultur, die Liebhabern von Alpenpanoramavorhängen, Plastikblumen und Aluminiumgeschirr ästhetisch etwas bieten kann. Die Ausstellung zeigt, welches kulturelle Substrat als Inspiration für neue Wege jenseits des allgegenwärtigen Wohnsilos Architekten und Designern zur Verfügung steht.

Katja Brinkmann

* „Leben unter dem Halbmond" noch bis zum 18. Januar 2004, Vitra Design Museum, Kopenhagener Str. 58, Prenzlauer Berg

 
 
 
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