Ausgabe 09 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Raumpiraten

Eine Ausstellung und eine Vortragsreihe zur informellen Architektur

Wenn beim Städtebau der Staat als Hüter öffentlicher Belange versagt, bleibt das selbstorganisierte Engagement: die eigenmächtige Aneignung von Raum. „Pirated spaces – informal architecture" nannte die Gruppe „Urban Drift" ihre jüngste Ausstellung und Vortragsreihe, die sich mit solchen Prozessen befaßt. Nach der Konferenz letztes Jahr, die im Café Moskau stattfand, hat es sich Urban Drift fernab der Ostberliner Architektur-Avantgarde gemütlich gemacht: im Bikini-Haus am Zoo, einem gediegenen Fünfziger-Jahre-Bau, dessen Büroräume naturgemäß leerstehen.

Eingeladen war „Transformers", eine Gruppe von Künstlern, Architekten und Publizisten, die dem Ende der staatlichen Stadtplanung etwas Positives abgewinnen wollen. Einige belanglose Designereien wurden vorgestellt, aber auch ernsthafte Projekte eines informellen, ja subversiven Städtebaus. Am 17. Oktober gab es Vorträge zu den Slums Lateinamerikas. Mit dem Thema verbinden sich große Namen; Rem Koolhaas etwa pflegt in seinen Bestsellern die Slums der Dritten Welt effektvoll zu ästhetisieren.

Der mexikanische Videokünstler und Performer Pablo Leon de la Barra, der mit seinem VW-Bus als „mobiler Galerie" durch die Städte Mexikos fährt, lehnt solchen „westlichen Romantizismus" ab. Auf Puerto Rico verschaffte er einem Armenviertel eine Art Heimatmuseum: Nach und nach füllten es die Nachbarn mit ihren wertvollsten Habseligkeiten: alte Spielzeuge, Familienfotos, ikonenhafte Porträts eines lokalen Sportmäzens, der als Kokain-Großhändler von der Polizei erschossen wurde. In Athen baute de la Barra mit Albanern einen verschrotteten Pick Up in eine fahrende Konzertbühne um. Und in Sevilla wollte er mit rumänischen Zigeunern einen Ausstellungspavillon errichten, mitten im geleckten Kunstforum, das ihm die Stadt zur Verfügung gestellt hatte. Als diese die nahegelegene Zigeunersiedlung räumen ließ und so de la Barras Mitarbeiter verschwanden, baute er selbst, die Reste des verlassenen Dorfs als Baumaterial nutzend. Ob so etwas politischer Protest, Kunst, Pop oder eher nur Provokation ist, wird nicht erklärt: „Politisch sein muß gut aussehen", schreibt de la Barra lapidar.

Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner vom „Caracas Urban Think Tank" beschäftigen sich mit Petare, einem der größten Slums Südamerikas. Sie stellen den 89jährigen Horacio Genaro González vor, der vor Jahrzehnten die ersten Terrassierungen und Baustellen organisierte und zu Unrecht vollkommen unbekannt ist – schließlich macht ihn die Gründung Petares, das inzwischen über 500000 Bewohner faßt, zum „größten Stadtentwickler Südamerikas". Brillembourg und Klumpner analysierten die preisgünstigen und flexiblen Strukturen Petares und wagten auch den direkten Vergleich mit den Betonriegeln der Nachbarviertel: „Was ist formell, was ist informell?" Während das Slum auf einer effizienten Raum- und Rechtsorganisation zu beruhen scheint, verursachte der zentral organisierte Massenwohnungsbau zahlreiche Korruptionsskandale, ist im Bau teuer und in der Planung viel zu schwerfällig für das rasche Bevölkerungswachstum. Allerdings fand Caracas auch für dieses Problem eine Lösung: Die Betonsiedlung 23 de Enero etwa wurde noch vor Fertigstellung von rund 70000 Armen kurzerhand besetzt.

Inwieweit – oder vielmehr: in wie naher Zukunft – solche Verhältnisse auf Europa übertragbar sind, blieb offen. Nur die Künstlerin Marjetica Potrc aus Slowenien zeigte einige Bilder aus Südosteuropa, wo bereits die ersten Slums entstehen. Vielleicht erfährt man davon demnächst mehr: Vom 7. bis 23. November zeigen Transformers/Urban Drift die Ausstellung und Veranstaltungsreihe „Ufo Belgrad".

Johannes Touché

* Urban Drift, Budapester Straße 48, Charlottenburg, Informationen unter www.trans-formers.org

* Am 8. und 9. November ab 15 Uhr beschäftigt sich die „Ersatzstadt" der Volksbühne in der Veranstaltungsreihe City of COOP im Prater, Kastanienallee 7-9, Prenzlauer Berg, mit „Ersatzökonomien und städtischen Bewegungen" in Rio de Janeiro und Buenos Aires

* Vom 19. bis 23. November widmet sich das studentische„PlanerInnentreffen" der TU dem Berliner Slumbau: „Planen in der Pleite", Informationen unter www.planertreffen.de

 
 
 
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