Ausgabe 09 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Von Funktionären und Indianern

August Sander und die Quelle-Katalogisierung der Menschen

Der Indianer war von der Wirklichkeit des Abbilds überzeugt. Trotzdem oder gerade deswegen ist er bevorzugtes Modell für Sammler untergehender Exotenstämme wie Adam Clark Vroman oder Edward Sheriff Curtis geworden: Indian-Photographers. Durch ihr Archiv lebt die Wirklichkeit des Indianers in uns fort. Der deutsche Vorkriegsstamm schwappt zu uns mit dem Werk August Sanders (1876-1964) herüber. Auch hier beweist ein Lichtbildner sein Gespür für den Untergang einer Gesellschaft. Er, Sander, ordnet sich im Mappenwerk unter „VI/Großstadt/Typen und Gestalten der Großstadt" selbst schlicht als „Photograph" ein. Ist das feine Ironie eines launig-verspielten Archivars?

Vermutlich war Sander spätestens dann bewußt geworden, welche Wirkung seine Arbeit hatte, als sie bei den Nazis als böse Strahlung ankam. Sanders Buch Antlitz der Zeit (1929) wurde 1934 als „antisozial" verboten. Auch wurde sein Sohn Erich Sander 1934 wegen Zugehörigkeit zur Sozialistischen Arbeiterpartei zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt. (Man ließ ihn dort 1944 an einer Blinddarmentzündung sterben.) Ein Grund für Sander, sich in diesen Jahren konspirativ zu verhalten: Offiziell betätigte er sich jetzt als Landschaftsfotograf. Er machte jedoch weiter Porträts von Nazis, Industriellen, Beamten, Verfolgten. Nach dem Krieg wurde er zu einer Ikone der Fotokunst. Sammler wie R. und L. Gruber und Fotografen wie Alfred Stieglitz förderten sein Werk. Ohne ihn gäbe es keine Becherschen Fachwerkhäuser oder Wassertanks, keine Struthschen Raummetaphern, keine Sassesche Fotologistik, keinen Thomas Ruff mit seinen Paß- oder Fantomporträts. Die ganze Bandbreite der Körperarchivare und verbissenen Doku-Kunst-Wollenden hat bis heute an ihm ihr Konzept-Modell.

Doch da ist ein Haken ­ mitten im Kern des Modells. Er heißt: Typisierung, Typologie. Anteilnahme, Partei-Ergreifen sind in dieser Sparte eigentlich nicht angesagt. Das (Ab)Bild wird eingeordnet in ein Koordinatensystem der Bildunterschriften. Sander, ganz der zurückgenommene Poet, nennt seine Kategorien von Porträts z.B. „Reproduzierende Musiker". Wow! Das klingt richtig dokumentarisch. Gleich verlockt es mich, die Kategorie zu erweitern um „Singende Dienstleister". Daneben hängt dann, ernsthaft: „Mappe III/Die Frau/Die elegante Frau/Tochter eines Malers". Oder „Industriellengattin", dahinter die Jahreszahl in Klammern. Da pfeift die Systematik durch alle Löcher. Alles geht munter durcheinander, Personen ­ vor allem Freunde oder der Sohn ­ tauchen in den unterschiedlichsten Sparten mehrfach auf.

Das NS-Regime und der Krieg hatten Sanders Absicht, ein riesiges Konvolut unter dem Titel „Menschen des 20. Jahrhunderts" zu schaffen, zunichte gemacht. Das ihm wichtigste Negativmaterial hatte er retten können. Er hat es jedoch bis zu seinem Tode nicht in der einstmals geplanten Form herausgebracht. Nun betreut der Sparkassen-Kulturfonds aus Köln sein Archiv. Mit dem Anspruch, „en détail den Intentionen des Photographen" zu folgen, erscheint ein siebenbändiges (!) Werk, das viele dieser Aufnahmen der zwanziger Jahre in möglichst originärer Qualität zu zeigen versucht. Diese Porträts ­ um mal eine weniger typisierende Kategorie aufzumachen ­ sind überwiegend sehr schön gestaltet. Sander hat viel Mühe auf eine ausgewogene Komposition verwendet: lebendige Porträts ­ trotz der zeittypischen Großbildkamera, was Langzeitbelichtung und kopfstehendes (Kamera-)Bild bedeutete. Techniken wie die des Aufhellens, des Nachbelichtens, des Weglassens von Einzelpartien und des Ausschnittwählens nutzte er ausgiebig.

Im Eingangsbereich der Ausstellung hängen (von seinem Sohn Gunther erstellte) größere Abzüge (ca. 50 x 70 cm), deren Wirkung mich zu Beginn eine völlig anders konzipierte Ausstellung erwarten ließ. Warum, so fragte ich mich spontan, ist man bei der Sparkasse nicht auf die Idee lebensgroßer Abzüge gekommen? Haben die Fachleute abgeraten? Ein bis zwei Dutzend lebensgroße Ganzkörperporträts bringt doch z.B. Helmut Newton heute wie selbstverständlich in seiner Ausstellung unter. Ich stelle mir also vor, wie die Menschen-Systematik des August Sander mit Riesenabzügen ­ über den gesamten Gropius-Bau verteilt ­ gewirkt haben könnte. Das wäre ein wohlfeil-prätentiöser Anschlag geworden! Die Negative Sanders und die Geldmittel der Sparkasse hätten das ausgehalten. Sanders Ruf als bescheidener Entomologe mit Käscher und niedlichem Jägerlatein aber wäre wohl offen in Frage gestellt. Zurecht. Sander bemerkte schon 1927: „Man fragt mich oft, wie ich auf den Gedanken gekommen sei, dieses Werk zu schaffen: Sehen, Beobachten und Denken." Ja, erst Denken, und dann: Schreiben!? Ohne seine Theoriegebilde ­ die hier explizit hervorgehoben werden ­ hätte das hingehauen, selbst monumental wär's durchaus sehenswert gewesen. Man läßt ihn aber fahrlässig in seiner kulturhistorisch verquasten Ecke und gießt dieses Denken ungerührt in sieben Räume/Bände ­ ein kunstwissenschaftlich tendenziöses Unterfangen.

Sander, der begabte Porträtist, der Suchende, der experimentierend Ordnende, hatte gerade nicht den kalkulierenden „Blick des Ingenieurwissenschaftlers" (Klaus Honnef), noch erfand er sich einen „abstrakten Nihilismus" (Susan Sontag). Er wollte das Koordinatensystem, Sinn stiften, sein Werk hermetisieren. Dieses Spiel ging weder damals, noch geht es heute auf. Weder ein kalkuliertes noch ein künstlerisch stimmiges Konzept läßt sich der Arbeit Sanders entnehmen. Gelungene Gegenbeispiele entstanden erst später, wie das „Musée d'Art Moderne, Département des Aigles" (1972) von Marcel Broodthaers und Hermann Vogels „Gewalt im Röntgenbild ­ Befunde zu Krieg, Folter und Verbrechen" (1999). Wie kommt es, daß ein wichtiger Chronist/Porträtist der 1920er Jahre, gerade mit dieser drollig-experimentellen Systematisierungs-Idee, zum in Stein gehauenen Monument avanciert? Gibt es ein Interesse, die werkimmanenten, selbstüberschätzenden Tendenzen Sanders bei der Erstellung eines Quelle-Katalogs der Menschen noch zu amplifizieren? Diese disproportionierte Schau ignoriert die Arbeiten von Leuten wie F. M. Neusüss, V. Export oder J. Klauke, die seit Jahrzehnten an einer emanzipierten, reflektierten Fotografie arbeiten. So selbstverständlich wie August Sander heute als Künstler anerkannt wird, muß auch sein Konzept kritischen Fragen unterzogen werden. Sanders Zeitgenosse Alfred Döblin wird mit dem Ausspruch zitiert, man könne „allerhand" aus den Bildern Sanders herauslesen. Dieses u.ä. Zitate werden in der Ausstellung jedoch schlicht und harmlos als Werbetafeln eingesetzt, nicht diskutiert. Wenn die Objektivität eines Bildes eine Illusion (Gisèle Freund) ist, Bildlegenden daher immer argwöhnisch gelesen werden müssen, bleibt die interessanteste Frage offen: Hatten Sander alle guten Geister verlassen, als er den Inder und seinen Manager dem „fahrenden Volk/Jahrmarkt und Zirkus" zuordnete?

Jörg Gruneberg

* „August Sander: Menschen des 20. Jahrhunderts. Das große Porträtwerk und Arbeiten seiner Künstlerfreunde", noch bis zum 11. Januar 2004 im Martin-Gropius-Bau, Niederkirchnerstr. 7, Kreuzberg, Mi bis Mo 10 bis 20 Uhr. Eintritt: 6 Euro, ermäßigt 4, Familien 12 Euro. www.photographie-sk-kultur.de

 
 
 
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