Ausgabe 09 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Genug von zu wenig

Der Umsonstladen in Mitte fordert auf zu gegenseitiger Hilfe

Wenn man den zahllosen Hiobsbotschaften glauben wollte, die täglich aus den Nachrichtenredaktionen zum Thema Wirtschaft in die Wohnzimmer der Nation hineinflimmern, müßte man wohl ein schlechtes Gewissen bekommen: „Hallo, liebe Bürger, weshalb kauft ihr so wenig?" wird da gerne durch die Blume gefragt. Denn die Steigerung der Binnennachfrage wird unisono von allen Parteien mit der Schaffung und Bewahrung von Arbeitsplätzen gleichgesetzt. Ganze Fernsehsender leben mittlerweile davon, daß Menschen auf das reduziert werden, wofür ein höchst artifizieller Markt sie braucht: um das Geld, das sie möglicherweise noch besitzen, für sinnlose Produkte auszugeben. Der nächste Werbespot verspricht gerne günstigen Kredit.

Nicht beachtet wird dabei, daß immer weniger Menschen in der Lage sind, der inneren Logik des Kapitalismus zu gehorchen. Einzelhandel, der ja an sich nichts Böses in sich trägt, lohnt sich nicht mehr. Rund um das Gesundbrunnen-Center jedenfalls (das schönerweise aussieht wie ein sinkendes Schiff), haben nur noch Idealisten und Pseudobetriebe ihren Platz. Aber es gibt in unserem armen, sehr reichen Land, mehr Gutes, als man zunächst zuzugeben bereit ist. Um nun dem Unsinn millionenschwerer Werbekampagnen entgegenzutreten, in denen menschliche Bedürfnisse immer penetranter erzeugt und behauptet werden, bekommen Werte wie Kreativität, soziale Kompetenz und uneigennützige Hilfsbereitschaft eine längst wieder benötigte Wichtigkeit.

Seit mittlerweile zwei Jahren versucht der „Umsonstladen" in der Brunnenstraße, der kapitalistischen Marktlogik das Konzept einer interessenlosen Gratisökonomie entgegenzusetzen. Dort bringt man Dinge hin, die man nicht mehr braucht, die aber eigentlich zu schade für den Sperrmüll sind. Geld gibt es dort nicht. Und man holt sich das, was man braucht: einen Pullover, ein Buch, eine Anregung. Was dieses Projekt letztendlich ist ­ ein Symbol, ein Anfang oder sogar ein gangbarer Weg ­ soll hier nicht entschieden werden.

In diesem Umfeld ist vor kurzem etwas Neues entstanden: Der „Gratis-Ring", welcher die Idee des verwertungsfreien Schenkens von Dingen auf das Gebiet der Dienstleistung ausdehnt. Im Gegensatz zu seit längerem bestehenden „Tausch-Ringen", bei denen oft mittels eines Punktesystems eine Gegenleistung für den erbrachten Dienst eingefordert werden kann, verzichtet der Gratis-Ring konsequent auf jegliche Art des Zwangs. Entscheidend ist der Wille und die Einsicht der Teilnehmer, daß ein sinnvoller Austausch von gegenseitiger Hilfe auch ohne Kontrollinstanzen und Ersatzwährung auskommt. Von Ungarisch-Kursen bis hin zu Haarschnitten kann im Gratisring vieles nachgefragt und angeboten werden. In einem Info-Ordner, der später einmal durch eine Datenbank im Internet ergänzt werden soll, werden die Angebote und Gesuche gesammelt. Ich schaue hinaus auf meinen Hinterhof. Es gibt jemanden, den ich fragen kann. Alles wird gut; vielleicht.

Thomas Gensheimer

Der Umsonstladen befindet sich in der Brunnenstraße 183, Mitte, Infos unter www.umsonstladen.info

 
 
 
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