Ausgabe 08 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

"Ich find dich immer noch scheiße"

Marco Wilms' Mittendrin als Nachtrag zu den „wilden Neunzigern"

Als seinen „persönlichen Beitrag zum Tag der deutschen Einheit" will Marco Wilms seinen Dokumentarfilm Mittendrin verstanden wissen. Aber keine Sorge. Nicht die rührende Anekdote zum Mauerfall, sondern der allgemeine „Aufbruch in die Selbstbestimmung" der Zeit danach ist das Thema, das Wilms mit einer Collage von Archivbildern und aktuellen Interviews erörtert. Ein Dokumentarfilm, wie er sein soll: pointiert, ja polemisch in seinen Aussagen, aber vielschichtig im Arrangement der Bilder, der Sprache und der Musik, die mal krachend und wild, mal ironisch und oft auch unverblümt sentimental die Szenen kommentiert.

Die Sentimentalität und Polemik sind verständlich. Mittendrin schildert eine Episode, die – obwohl allenthalben zu einer flüchtigen Modeerscheinung verniedlicht – vielen Menschen noch sehr nahe ist. Wie sich 1990 die Fassaden der Spandauer Vorstadt mit Transparenten füllten und verwegene Spinner die kaputten Häuser zusammenflickten, um sich dort Freiraum für ihre Ideen zu schaffen. Wie man Kommerz und Staatsgewalt fernzuhalten versuchte und wie die Kieze dennoch allmählich zu etwas mutierten, das den unbedarften Betrachter eher an piefige westdeutsche Kleinstädte erinnert als an das Zentrum der „wilden Neunziger".

Die Gebäude und Straßen haben nichts mehr zu erzählen, wohl aber die Menschen. Fünf Leute, die dabei waren: Jutta Weitz von der Wohnungsbaugesellschaft Mitte, wo sie seinerzeit Gewerberäume verwaltete, systematisch „ihre Kompetenzen überschritt" und den anstürmenden Hausbesetzern Rückendeckung gab. Der Sozialarbeiter Mathias Ambellan von einem eher pragmatischen Hausprojekt in der Auguststraße 70, in dem noch immer die Erstbesetzer leben und eine offene Jugendeinrichtung betreiben. Flake Lorenz, der im Eimer und anderen besetzten Häusern Punk machte und inzwischen in Rammsteins eiskalten Bühnenshows Keyboard spielt, sowie der Freygang-Sänger André Greiner-Pol, der der Ostberliner Schrammelrock-Szene noch heute musikalisch und charakterlich die Treue hält. Und dann ist da noch Jochen Sandig, derzeit Intendant an der Schaubühne. Er war einer der Initiatoren des Tacheles und für die erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit, aber auch die rapide Kommerzialisierung des Hauses verantwortlich. Als die Kamera ihn dorthin begleitet, versteht man, warum er den nunmehr etablierten Kunststandort seit Jahren meidet. „Ich find' dich immer noch scheiße", brummt einer der Mitstreiter von damals, und Sandig antwortet hilflos: „Ja, ich dich auch."

Sandig kann einem leid tun. Erbarmungslos führt Wilms den weltgewandt sich gebenden Kulturmanager vor. Ob er sich als Charmeur oder Familienvater, als Ästhet, Politiker oder weise gewordener Junger Wilder gebärdet – jede Geste mißlingt ihm, jedes Lächeln entlarvt seine nervöse Eitelkeit. Schon in der Hippie-Idylle der ersten Jahre des Tacheles erscheint sein werbendes Gehabe als Schauspielerei. Mittendrin läßt keinen Zweifel, daß Sandig zu den „Bissis", den Business-Machern gehörte, die Greiner-Pol so beschreibt: „als Punks und Künstler getarnte Yuppies", für die die Haus- und Kulturprojekte der neunziger Jahre im Grunde nur „Start Ups" waren. Die anderen, die Chaoten und Idealisten, stiegen aus, als sie in die Defensive gerieten. Ihre hohen Ideale wurden zu Randerscheinungen – was daran liegen mag, daß sie mehr als undeutlich waren. Lorenz: „Wie Blauäugig. Zu glauben, daß man mit Cafés und Kneipen etwas ändern kann."

Hat es heute noch Sinn, den Opportunismus und Pragmatismus, die Nachgiebigkeit und Naivität jener Zeit gegeneinander in Stellung zu bringen? Zum Glück begnügt sich Mittendrin nicht damit, alte Rechnungen zu begleichen. Der Film stellt vor allem Fragen: Was war das Projekt der wilden Neunziger? Was ist heute davon übrig, und gibt es etwas, was sich wieder aufzugreifen lohnt? Weitz, die diese Fragen kennt, sagt in einer ruhigen Szene in ihrem WBM-Büro, daß sie es „jederzeit wieder" tun würde. Durch ihr Bürofenster sieht man das melancholische Bild eines abfahrenden Zugs.

Johannes Touché

> Der Dokumentarfilm „Mittendrin" kommt am 3. Oktober in die Kinos.

 
 
 
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