Ausgabe 08 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Unbefangene Schnappschüsse

In zwei Wochen einen Reiseführer produzieren, eine Kiezzeitung und eine architekturtheoretische Improvisation? Die Macher der Glasgower Vierteljahreszeitschrift glaspaper – critical writings on architecture and space hatten sich einiges vorgenommen. G.L.A.S. (Glasgow Letters on Architecture and Space) ist eine „Kooperative von Architekten, Lehrenden und Stadtaktivisten", die sich – ähnlich der Berliner Zeitschrift An Architektur – an einer politischen Interpretation räumlicher und architektonischer Phänomene versuchen. Auf Einladung der Architektur-Galerie Aedes waren sie Mitte September nach Berlin gekommen, um die Stadt im glaspaper-Format zu porträtieren: rund zwei Dutzend Seiten mit Collagen, plakativen Schlagwortreihen und Texten aller Genres. Da saßen sie nun im Aedes-Glaskasten im hintersten Hackeschen Hof, beobachtet von Busladungen von Touristen und selber alles beobachtend, so gut es eben ging.

Die Pauschalreisenden ständig vor Augen, bemühten sich die glaspaper-Redakteure, die offensichtlichen, in jedem Stadtführer abgehandelten Themen zu vermeiden. „Unser Berlin", nannten sie ihr Heft. Keine Weisheiten zu Mauermuseum und architektonischen Hihglights also, sondern Impressionen von den Platten der Karl-Marx-Allee, dem Nikolai- oder dem Hansaviertel, von ganzen neun Schwimmhallen und einem Picknick im Weinbergpark. Man erfährt überrascht, daß Sex ­ insbesonders käuflicher ­ in Berlin allgegenwärtig ist, findet gute Grafitti- und Plakatkunst, Anwohnerporträts, Interviews mit Dahergelaufenen, Gedanken eines besoffenen Russen und das Spiel Hertha gegen Hannover, das die Redaktion offenbar besucht hatte, weil ihr zum Thema „Mauer" nicht viel mehr als Elfmeter einfallen wollte.

Auch solche Schnappschüsse können mal schief gehen. Die Zwischennutzungskonzepte von „Urban Catalysts" und RAW etwa kann man nicht einfach vorstellen; man muß sie diskutieren. Und so lieb und nett der Schwarzenberg e.V. ist ­ mehr als reine Werbung hätte er verdient.

Aber selbst dort, wo eine fundierte Auseinandersetzung eigentlich unumgänglich wäre, lohnt der unbefangene Blick von außen. Eine Stadtanalyse etwa, die Überlegungen zum gewaltvollen Wachstum, zu den Kriegen und Krisen der Stadt zur These verdichtet, Berlin sei die „räumliche Version des Aktienmarktes" ­ ein Berliner Stadtforscher fände das wohl zu leichtfertig, ein Besucher, ein außenstehender Betrachter aber darf das sagen. Leichtfertig und oberflächlich seine Eindrücke und Gedanken sammeln ­ bei „Unser Berlin" war das kein Unfall, sondern Programm.

Das Berliner Stadtleben erwies sich als unerwartet interaktiv. Gleich zu Beginn der Recherche wurden der glaspaper-Redaktion alle Computer gestohlen. Die Zeitschrift, die sich sonst durch eher elegantes Layout auszeichnet, wurde diesmal mit Schreibmaschine, Filzer und Papierschnipseln produziert. Das Ergebnis könnte schöner nicht sein. Wie die Stadt, so die Zeitung ­ collagenhaft, rotzig und voller lustiger Fehler.

jt

> Die glaspaper-Ausgabe „Unser Berlin" liegt gratis aus, u.a. bei der Galerie Aedes, Hackesche Höfe, Hof III, und bei der scheinschlag-Redaktion, Ackerstraße 169/170, beide in Mitte. Bestellungen und Kontakt bei: G.L.A.S., 31 A Errol Gardens, Glasgow G 5 0 R A, Schottland oder über info@glas-collective.com. Information unter www.glas-collective.com

 
 
 
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