Ausgabe 08 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Die moderne Metropole wird zunehmend fiktiv

Nachdenken über urbane Lebensräume

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Fotos: Jörg Gruneberg

Am 17. September veranstaltete der scheinschlag in Kooperation mit dem internationalen literaturfestival berlin im Kulturhaus Mitte eine Podiumsdiskussion zum Thema „Die Stadt als Realität und Fiktion. Nachdenken über urbane Lebensräume". Teilnehmer waren der in London lebende Romancier Romesh Gunesekera, die griechische Autorin Soti Triantafillou, Guillaume Paoli, Essayist und Theoretiker der „Glücklichen Arbeitslosen", sowie scheinschlag-Redakteur Florian Neuner. Klaus Laermann, emeritierter Literaturwissenschaftler an der Freien Universität, moderierte.

Laermann: Es gibt bei allen von uns eigene Erfahrungen mit den Städten, und diese Erfahrungen sollten wir daraufhin befragen, wie sie ästhetisch oder essayistisch gestaltet werden können. Ist also die Literatur, von der Sie hier sprechen oder für die Sie stehen, in erster Linie Stadtliteratur? Gibt es überhaupt eine andere als eine Stadtliteratur?

Gunesekera: Für mich besteht eine sehr enge Beziehung zwischen der Stadt und dem Schreiben. Das geht vielleicht sogar zurück auf die Ursprünge des Schreibens – und die Ursprünge der Stadt. Man kann aber auch nicht einfach sagen, alles Schreiben sei stadtbezogen. Autoren haben immer wieder versucht, pastoral zu schreiben, haben idyllische Landschaften beschrieben oder das politische Projekt verfolgt, für die Massen zu schreiben, als die noch nicht urbanisiert waren, für die Bauern. Das ist z.B. im 20. Jahrhundert in Sri Lanka versucht worden, und das hat nicht funktioniert.

Neuner: Ich möchte mit der zweiten Frage beginnen: Gibt es eine andere Literatur als Stadtliteratur? Ich denke schon. Gerade in der deutschsprachigen Literatur, gerade in der Lyrik sind wir mit vielen Texten konfrontiert, die sich dem Ländlichen, dem Landschaftlichen, dem Agrikultürlichen widmen. Und das reicht hinein bis in die Förderungsstrukturen. Es gibt eine ganze Reihe von Landverschickungsprogrammen für Autoren. Wenn sie ein Stipendium haben wollen, dann müssen sie sich in ein Dorf im Münsterland setzen und werden dort ein halbes Jahr lang alimentiert, hören die Vögel und schreiben vielleicht Lyrik.

Triantafillou: Mir würde in tausend Jahren nicht einfallen, diese Frage zu stellen. Literatur hat mit Klassen, mit Ideologie, mit Sprache zu tun, aber nicht mit der Geographie oder der Herkunft. In Griechenland bedeutet urbane Literatur eine Massenliteratur für geschiedene Frauen. Da geht es dann darum, daß man in die Bar geht und irgendwelche Dates hat. Für große Literatur ist die Stadt vollkommen irrelevant.

Paoli: Die Frage: Muß man von der Stadt aus schreiben? würde ich natürlich verneinen. Es gibt hervorragende Literatur aus Schwarzafrika oder Brasilien, die vom Leben auf dem Land berichtet. Die Frage ist, was wir überhaupt unter Stadt verstehen. Was heute eine Stadt ausmacht, hat wenig mit dem zu tun, was eine Stadt vor 50 oder 100 Jahren war. Die moderne Metropole, wie wir sie hier in Europa kennen, wird zunehmend fiktiv. Und es ist natürlich ziemlich schwierig, Fiktionen über Fiktionen zu schreiben. Traditionell war die Stadt ein Ort der Öffentlichkeit. Heute findet eine zunehmende Privatisierung des öffentlichen Raumes statt. Um ein Berliner Beispiel zu nennen: Der Potsdamer Platz ist kein Platz, weil Plätze Orte der Öffentlichkeit sind. Der Potsdamer Platz aber ist ein privater Raum.

Das zweite Phänomen ist eine zunehmende Fragmentierung des Stadtlebens. Das heißt, daß Städte immer schwerer durchschaubar sind. Die Leute leben nicht in einer Stadt, sondern in bestimmten Szenen oder Ghettos. Wenn man sich heute einen Berlin-Roman vorstellt, sollte er eigentlich von türkischen Lebensmittelhändlern, polnischen Putzfrauen, afrikanischen Flüchtlingen, ukrai-
nischen Nutten und Berliner Bauarbeitern handeln. Wer kann das schon schreiben? Was heutzutage unter Berlin-Literatur verstanden wird, ist Szene-Literatur, aber keine Berlin-Literatur.

Neuner: Diese Berlin-Literatur war ja nicht nur ein falsches Versprechen für all diese Feuilletonisten, die sich den großen Berlin-Roman erträumt haben. Dahinter steht auch ein sehr fragwürdiges, realistisches Konzept von Literatur, das meint: Wenn man in die Stadt geht und die Augen offen hält, dann würde schon etwas Spannendes dabei herauskommen. Ich glaube, es ist relativ egal, wo ein Schriftsteller heute arbeitet. Es kommt in erster Linie auf seine sprachliche Umgebung an, auf medial vermittelte Informationen, auf Texte und Diskurse, und die kann man nun auch am Ende der Welt verfolgen.

Laermann: Mir drängt sich der Verdacht auf, daß diese Konjunktur des Themas Stadt in öffentlichen Debatten seit zehn oder 15 Jahren das ersetzt, was vorher Gesellschaft hieß. Seit es mit der Gesellschaft nicht mehr so recht geht – argumentativ und inhaltlich – wollen die Debattanten, zu denen wir hier auch zählen, sich mit der Stadt beschäftigen.

Gunesekera: Der Roman hat die Freiheit, alles zu machen, und er kann alles machen. Doch hat es natürlich schon Auswirkungen, wo Autoren leben, wie sie sich sehen. Ich habe mit Freunden schon öfter darüber diskutiert, wie es kommt, daß Schriftsteller in großen Ländern häufig davon besessen sind, sehr große Romane zu schreiben, den großen amerikanischen Roman oder den großen New York-Roman. Auch die Inder schreiben gerne große Romane, Shashi Tharoor etwa, der auch auf diesem Festival aufgetreten ist.

Eine Stadt wie London ist pluralistisch. Jeder Autor in London hat eine unterschiedliche Sicht, und so sollte es auch sein. Das hat sehr viel damit zu tun, wo jemand lebt, was jemand verdient, wo er herkommt. Man kann heute nicht mehr die Arroganz eines Dickens haben, der meinte, alles erfassen zu können.

Triantafillou: Es gibt nur sehr wenige große Städte auf der Welt. Man kann ja definieren, was eine Großstadt ist: Das ist ein Ort, wo es Homosexuelle gibt, wo man rund um die Uhr essen und trinken kann, wo die ganze Nacht die Lichter an sind und es überall Schwarze gibt. Es gibt nur wenige Städte, die diesem Kriterium entsprechen, die wirkliche Gesellschaften sind, auf die man sich konzentrieren und über die man schreiben kann. Man kann einen New York-Roman schreiben, aber es ist sehr schwierig, über London zu schreiben, weil in der ganzen Stadt um 23 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden.

Paoli: Das Interessante für einen Roman wäre: Was passiert in London nach elf? Der Sinn von Literatur ist doch, etwas zu sagen, was nicht sofort wahrnehmbar ist. Ich habe einmal mit einer Inderin gesprochen, die einen sehr interessanten Standpunkt hatte, von dem aus man einen Roman schreiben könnte. Sie meinte: Berlin ist eine rätselhafte Stadt. Die Straßen sind leer, und alles was in einer indischen Stadt auf der Straße passiert, muß doch irgendwo passieren in Berlin, aber wo?

Neuner: Großstädte sind die Zentren des literarischen Lebens. Das heißt aber nicht, daß die Literatur, die von den Leuten, die in diesen Zentren in Erscheinung treten, geschrieben wird, wirklich Stadtliteratur ist. In der deutschsprachigen Literatur gibt es einen sehr bedeutenden Strang an nicht-städtischer Literatur. Ein Autor wie Franz Josef Czernin sitzt im Wald und schreibt über die Elemente, Sarah Kirsch sitzt auf irgendeiner Insel. Außerdem gibt es im Moment in Deutschland eine Mode ost-mitteleuropäischer Literatur, die sich im ländlichen Raum abspielt, die polnischen Autoren Olga Tokarczuk oder Andrzej Stasiuk etwa, die die Provinz feiern und poetisch aufladen. Wahrscheinlich ist die Berlin-Mode sogar schon wieder vorbei.

Laermann: Die Stadt war immer ein Brennpunkt des Sozialen. Die Stadt ist der Ort der Revolte, insofern sie immer die Aufgabe hat, soziales Elend zu integrieren. Gleichzeitig aber ist die Stadt auch ein Ort der Indifferenz geworden. Es ist nicht mehr so, daß soziales Elend für die Stadt als Druckmittel gelten kann, sondern man kann darüber hinwegsehen.

Paoli: Ich denke, das ist nicht neu. Die Romane von Dickens sind voll von dieser Indifferenz. Nur war es damals einfacher, das literarisch darzustellen. Das Problem ist, daß die sozialen Schwierigkeiten heute verborgen werden. Ein Beispiel dafür ist Paris, wo die Armen in den Vorstädten leben. Man sieht sie nicht, und natürlich entsteht keine Literatur aus diesen Vorstädten, und das Problem wird für inexistent erklärt.

Triantafillou: Die Herausforderung für den Autor ist doch nicht, die Welt zu beschreiben, sondern eine zu konstruieren. Die besten Werke in der Literatur sind keine Beschreibungen von Städten oder was auch immer, sondern Konstruktionen imaginärer Welten.

Neuner: In Berlin mußte eine neue Hauptstadt symbolisch besetzt werden, und Literaten und Essayisten haben nach Kräften mitgewirkt. Nun werden diese fiktiven Welten zum Glück nicht in die Realität umgesetzt. Ganz anders ist das bei den Architekten und Stadtplanern, deren Fiktionen ja in die Realität umgesetzt worden sind. Da wird es dann wirklich ernst, und hier sehe ich eher ein journalistisches Arbeitsfeld. Hier geht es um ganz konkrete Kritik.

Paoli: Ich denke nicht, daß man nur die Wahl hat, entweder eine fiktive Welt zu bauen oder die Stadt zu beschreiben. Es gibt eine Literatur, die von der Stadt ausgeht, aber nicht, um sie zu beschreiben, sondern, um die Potentialität der Stadt, das Versteckte oder das Zukünftige auszuloten. Wenn man die heutige Stadt sieht, fragt man sich: Welche versteckten Möglichkeiten, welche Utopien gibt es noch?

Laermann: Ich denke, daß die Stadt als Thema für die Literatur immer auch etwas Utopisches gehabt hat, denn es gab die Vorstellung in der Literatur, daß alles, was nicht zusammenpaßt, doch in eins gefaßt werden kann. Allein die Tatsache, daß die unterschiedlichsten Phänomene zwischen zwei Buchdeckel passen, ist etwas, daß den Romancier am Thema der Stadt immer fasziniert hat.

Neuner: Ich denke, Sie beschreiben ein historisches Phänomen: diese Koinzidenz zu Beginn des 20. Jahrhunderts, daß die Städte gewachsen sind, die sozialen Brennpunkte immer virulenter wurden und daß es gleichzeitig eine literarische Moderne gab, die sich daran abgearbeitet hat, die die Form des Romans strapaziert und überstrapaziert hat. Damit ist der Roman mit diesem synthetisierenden Anspruch, zeitgenössisches Leben darzustellen, auch an ein Ende gekommen.

Gunesekera: Ich muß widersprechen. Der Roman des 19. Jahrhunderts kann das heute vielleicht nicht mehr leisten. Es gibt aber nichts, was ein Roman nicht kann, weil es für ihn keine Regeln gibt. Es kann heute kein Romankonzept sein, alles zwischen zwei Buchdeckel zu bringen. Es gibt aber eine artistische Integrität, die alles zusammenhält. Sonst könnte man auch das Berliner Telefonbuch lesen.

Paoli: Wir leben in einer Utopie heute. Alles wurde plattgemacht und neu gebaut. Deshalb können keine Utopien mehr geschrieben werden, sondern nur noch Distopien, negative Utopien. Utopie bedeutet Nicht-Ort, und wir leben zunehmend an einem Nicht-Ort. Alles, was einmal eine Stadt ausgemacht hat, wurde zerstört.

 
 
 
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