Ausgabe 08 - 2003 berliner stadtzeitung
scheinschlag
 

Berlin 1903

2. Oktober bis 5. November

Telephonabonnenten-Verzeichnis. Bei der Kaiserlichen Ober-Postdirektion wird eine Neuauflage des Fernsprechteilnehmer-Verzeichnisses für Berlin und die angrenzenden Vororte vorbereitet. Das Verzeichnis wird Ende dieses Monats zur Verteilung kommen. Änderungen und Vervollständigungen in den Wohnungsangaben usw., welche in der Neuauflage berücksichtigt werden sollen, sind möglichst frühzeitig, spätestens aber bis zum 10. des Monats schriftlich und frankiert der Kaiserlichen Ober-Postdirektion, Berlin C2 (Spandauer Straße) mitzuteilen. Das Teilnehmerverzeichnis wird mit der Herbstausgabe zum ersten Mal in einem neuen Gewand erscheinen. Es erhält das Format des Reichskursbuches, abgerundete Ecken und einen standhafteren Einband mit steifem Deckel. Damit es erforderlichenfalls neben dem Fernsprechapparat angehängt werden kann, wird eine schwarz-weiß-rote Seidenschnur durch je eine in der Vorderseite und in der Rückseite des Deckels angebrachte Öse gezogen werden.

General Booth, der Gründer der Heilsarmee, weilt derzeit wie alljährlich in Berlin, um Heerschau über seine Getreuen zu halten und durch die faszinierende Macht seiner Persönlichkeit neue Anhänger zu gewinnen. Er hält in den Germania-Sälen in der Chausseestraße am 6. Oktober zwei Versammlungen ab. Mit dem General ist eine große Anzahl von Offizieren der englischen Heilsarmee gekommen, und natürlich ist auch der Kommandeur der Heilsarmee in Deutschland Herr Oliphant mit seinem Stab anwesend. Es sind fast nur „Gerettete", die jene Versammlungen besuchen, oder solche, die aus einem religiösen und sozialen Bedürfnis heraus dabei sind. Die Veranstaltungen nehmen äußerlich fast immer denselben Verlauf. Die geräuschvolle, auf die Nerven gehende Musik, die nach weltlichen Melodien komponierten Gesänge, die eindringlichen, fast milden Ansprachen, all das hypnotisiert die Massen förmlich. Der General selbst ist steinalt geworden, seine Stimme hat den metallischen Klang eingebüßt, und doch rüttelt das milde Feuer seiner Rede die Zuhörer förmlich auf. Während der Gebete knien die männlichen und weiblichen Soldaten und Offiziere nieder, die beifälligen Rufe wie „Amen" und „Halleluja" scheinen aus gedrückten Seelen und innerer Zerknirschung zu kommen. In der zweiten Versammlung spricht der General über das Bibelwort „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele!" Es sind nicht die theologischen Ausführungen, durch die Booth so packt, sondern seine drastische, volkstümliche Beredsamkeit, seine Leidenschaft und die Überzeugung von der Wahrheit dessen, was er selbst glaubt und spricht. Er segnet unsere Stadt, die Behörden, den Kaiser und die ganze Welt, die Mitglieder der Heilsarmee sinken in die Knie. Er fordert die verlorenen Seelen auf, sich zu melden und Rettung bei der Heilsarmee zu suchen. Endlich tritt ein gut gekleideter, großer Mann hervor, der schluchzend niederkniet. Sofort ist ein Heilssoldat bei ihm und spricht ihm zu. Es melden sich schließlich über vierzig Personen. Die jungen Mädchen werben und sprechen, immer eindringlicher ertönt die Musik und der Gesang, jeder bemüht sich, der Heilsarmee neue Anhänger zuzuführen.

50 Mark Belohnung hat die Eisenbahn-Direktion Berlin ausgesetzt für die Ermittlung solcher Leute, die Fensterriemen abschneiden, Türklinken stehlen usw. Neuerdings werden sämtliche Metallteile der Eisenbahnwagen von Langfingern entwendet. Die an den Türen befindlichen Aschbecher werden gestohlen, die Messingschrauben aus den Sitzbänken herausgeholt, die Scharniere, in denen die Gardinenstangen hängen, entfernt, ja selbst Gardinen sind schon aus den Waggons verschwunden.

Den außerordenlichen Geschwindigkeits-Rekord der Studien-Gesellschaft bringt am 7. Oktober eine ganze Schar von Fachleuten in Zivil und Uniform dazu, mit den Frühzügen zu einer Station der Zossener Vorortstrecke zu fahren. Oberingenieur Reichel will sich durch das „bißchen Wind" nicht abschrecken lassen. Die Leitung wird unter 14000 Volt Spannung gesetzt, die mitfahrenden Herren nehmen schon im Schnellwagen Platz, und der „Blitzzug" wird den Vorausstationen signalisiert. Der Orkan wird aber stärker, die Arbeitsleitungen pendeln hin und her. Das Abfahrtssignal wird widerrufen, und bald weiß man auf allen Unterwegsstationen, daß der Siemens-Wagen, nach dem so viele Augen ausschauten, nicht kommen wird.

Falko Hennig

 
 
 
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